12/10/2017

2 ½

Bücher zum heurigen steirischen herbst

Herbstbuch 1968-2017
Herausgeber: Martin Behr, Martin Gasser, Johanna Hierzegger
416 Seiten,  € 35.00, 
Broschur, zahlreiche Abbildungen, 
Grafische Gestaltung: Atelier Neubacher, Satz & Sätze: 
Styria Verlag, Wien – Graz – Klagenfurt, 2017. ISBN 978-3-222-13577-4

WHERE ARE WE NOW?
Positionen zum Hier und Jetzt
Herausgeber: Veronica Kaup-Hasler, Christiane Kühl, Andreas R. Peternell, Wilma Renfordt
268 Seiten, € 35,00, Softcover gestanzt, offene Fadenheftung, 190 Abbildungen
. Grafische Gestaltung: Anja Lutz // Book Design:
 The Green Box, Berlin, 2017. ISBN 978-3-941644-97-7

Archiv Peter Piller
Materialien (H)
Irrläufer

112 Seiten € 19.00, Broschur, 103 Abbildungen, 
Grafische Gestaltung: Julia Wagner
, Nieves, Zürich, 2017. ISBN 978-3-905999-83-9

12/10/2017
©: steirischer herbst 2017
©: steirischer herbst 2017
©: steirischer herbst 2017

Feel Good steht auf dem roten T-Shirt im Fach der niemals getragenen Wäsche in meinem Kleiderschrank. Es ist ein Sammlerstück wie das noch original verpackte 1987er Gun’s and Roses Leiberl von ihrer ersten Europa-Tour oder dem Halstuch mit Sperrzaunmotiv von der nordkoreanischen Grenze. Feel Good war das Leitmotiv des steirischen herbst 1993, dem herbst der Großen Gefühle. „Haben Sie etwas verstanden?“, fragt ein deutscher Besucher die ORF-Kulturlady Ilse Amenitsch nach Ende des Schwab-Stücks Pornogeographie im seinerzeitigen Thalia Theater 1993.

herbstbuch 1968-2017
Viele persönliche Rückblicke, private Erinnerungen, gute Gefühle aus fünfzig Jahren füllen das von Martin Behr, Martin Gasser und Johanna Hierzegger herausgegebene herbstbuch 1968-2017.
1608 Tage Programm zu verdichten, war die Hausaufgabe. Durch die „rein subjektive Auswahl haben wir uns sicher tausende Feinde geschaffen“, meinte Behr bei der Vorstellung des Bandes im Forum Stadtpark. Liebes Team, deutlich mehr Freunde werden übrig bleiben! Dieses Postulat ist nach freudvollem Schmökern zulässig. 50 Jahre steirischer herbst vollständig zu erfassen, hätte enzyklopädische Ausmaße angenommen.
Entstanden ist stattdessen eine liebevolle Katalogisierung von ausgewähltem herbst-Geschehen, verpackt in eine kontrastreiche Inszenierung von Rubriken und Abteilungen. Es finden sich Legende und Randlage, Wegweisendes trifft auf Beiläufiges, es wird geschwelgt, es wird kommentiert, es wird beurteilt, es wird getratscht. herbstbuch 1968-2017 ist ein praller Bildband voller notwendiger Lücken. Ein Kommentarsammlung, die alle zu Wort kommen lässt, außer die die fehlen. Es ist ein unverzichtbares Handbuch des unnützen Wissens über den herbst – oder ist Ihnen in Erinnerung, dass unter den Tieren, die im letzten halben Jahrhundert beim steirischen herbst aufgetreten sind, ein Leopard und ein Salinenkrebs waren?
Das herbstbuch ist:
Ein Fundstück, das aus vielen anderen Fundstücken zusammen gesetzt ist.
Ein Aufklärungsbuch, dass nicht so viele Skandale, als wir in Erinnerung haben, je stattfanden.
Ein Fotoalbum, in dem noch viele schwarz-weiße Zeiten dominierten.  
Ein Zufallsgenerator, der egal wo man ihn anwirft bzw. aufschlägt, einen Erkenntnisgewinn liefert.
Und es ist empfehlenswert, zwei Exemplare davon zu kaufen. Einmal die schwarze, einmal die rote Ausgabe. Es gibt zwar bei beiden keinen inhaltlichen Unterschied, aber
1. Machen sie gute Figur im Regal nebeneinander,
2. kann ein Buch eingeschweißt als Sammelstück bis zu den 100 Jahren steirischer herbst überdauern.
Mein Zweitbuch kommt jedenfalls zum Feel Good Shirt. Die verstehen sich, das weiß ich.

WHERE ARE WE NOW?
Positionen zum Hier und Jetzt, die zweite, großformatige Publikation will dagegen Kunst erklären. Selbstverortung, Weltvermessung, die Gegenwart kartografieren, den Himmel über Graz weiter über die Welt spannen. Fünfzig internationale Stimmen liefern Axiome, Theoreme, kulturelle Betriebsanleitungen. Das Design des Buches ist etwas ekstatisch geworden, wer sich aber einmal zurechtgefunden hat, kann auch hier sympathische Amuse Gueules entdecken. Ein Ausschnitt zu Walid Raads großartiger Kicking the Dead Performance heuer kann nachgelesen werden. Benjamin Foerster-Baldenius vom Raumlaborberlin hat seinen eigenen Entwurf zu einem HDA-Wettbewerb anno 1992, in dem Ideen für Graz als Welthauptstadt der Zukunft gesucht wurden, ausgegraben. Ulla von Brandenburg sortiert ihren Blick auf die Gesellschaft mit farbenprächtigen Tarotkartensets. Und Peter Piller fotografiert Gestrüpp.

Materialien (H) Irrläufer
Peter Piller ist Archivar, Sammler und ein Querverbinder dieser Begriffe. Neben je einem Beitrag in den beiden herbst-Büchern hat er auch einen eigenen, kleinen Bildband Materialien (H) Irrläufer gestaltet. Pillers Spezialität sind Zeitungsartikel, die er monothematisch zu kleinen Universen zusammenfügt. Diesmal bekam er Zugriff zum herbst-Archiv mit über 100.000 Zeitungsschnipseln. Was ihn jedoch interessierte, waren nicht Kritiken und Kommentare zum Programm sondern die Rückseiten der Ausschnitte. Knapp 200 Dahinter- und Nebenblicke, Irrläufer nennt der Künstler sie, kompilierte Piller in einem kleinen Buch. Jede bewusste Aktion wird von unbewussten Handlungen begleitet. Jedes Wesentliche enthält ein Substrat von Nebensächlichen. Piller gibt dieser belanglosen anderen Seite plötzlich Bedeutung, konsequent und komisch zugleich. Definitiv Feel good!

Netzwerktreffen
16. + 17.11.2023
 
GAT+