05/06/2018

Jeden ersten Dienstag im Monat veröffentlicht GAT in der Kolumne Aber Hallo! Anmerkungen von Karin Tschavgova zu aktuellen Themen von Architektur und gebauter Umwelt.

05/06/2018
©: Karin Tschavgova

Ich, am Bahnhof, transitorisch

Der Mai hat mich auf einige Bahnhöfe geführt – Graz, Wien, Würzburg, Frankfurt, Marburg. Wieder und wieder der neue Hauptbahnhof Wien und Gelegenheiten, Bahnhöfe als Touristin zu sehen.
Ein gefühlt 15 Meter langes Werbeplakat am langen Weg von der U-Bahn zur Bahnhofshalle. Das Land Kärnten lockt mit trinkwassersauberem Seewasser und einem jungen, hippen Paar, das mir signalisiert: du und deine Altersgenossinnen werden nicht angesprochen in dieser Werbung. Ob sie überhaupt bemerkt wird?
Fußgänger (laut Duden nur österr.) hasten aneinander vorbei, Passanten, die einander nicht wahrnehmen, lediglich registrieren in einem Modus, der, auf Automatik gestellt, körperliche Konfrontation zu vermeiden sucht.
Im Gehen: Kreuzungen ins Nirgendwo für Nichteingeweihte. Trotz der Hinweisschilder bleiben Wege fremd für jene, die sie nie benützen müssen. Lichtführungen, die sich ebenso kreuzen. Dann Rolltreppen als – endlich! – eindeutige Richtungsgeber. Eine Etage höher Deckenlichter, die sich in den überlangen Glasfronten von Ein- und Ausgängen spiegeln, als Lichtspiel hierorts verwirrend. Wie viele Effekte entstehen bei Planungen unbeabsichtigt?
Auch ich bin eine Vorübergehende, aber ich habe Zeit. Gibt es hier einen Ort, an dem ich verweilen möchte?
Alles ist Konsum. Zwischen Burger King, Nordsee, Würstel Boutique und Som Kitchen Bewirtung als Einheitsbrei aus Bänken und Tischen in schlechtem, billigen Design – anonym, unpersönlich, auf das Motto „leicht zu reinigen“ reduziert. Nein, hier möchte ich nicht einmal Wartezeit verbringen.
Kein Ort, nirgends! fällt mir ein, der Titel eines Buchs von Christa Wolf, das die Heimatlosigkeit der Dichter Heinrich von Kleist und Karoline von Günderrode beschreibt, die sich 1804 als Außenseiter empfinden nach einem Jahrhundert, das in einer blutigen Revolte endete. Aus der Zeit gefallen, für die Zukunft zu früh, aus der Gegenwart schon zu weit entfernt. Für den Übergang, für ihre Transition, konnten beide keinen Ort finden.
Ich begebe mich ohne Eile auf den Bahnsteig, dort nur mehr wartend, verharrend, beiläufig beobachtend, frei assoziierend.
Bahnhöfe, schließe ich für mich, bleiben Orte des Transits, transitorische Infrastruktur, die vielleicht Konsumbedürfnisse befriedigen kann, aber nicht taugt als Ort des Verweilens, der Muße und des Genusses.
Dann sehe ich – plötzlicher Erinnerungsblitz in meinem freien Gedankenschweifen (ja, das geht am Bahnhof) – die Gastarbeiter meiner Jugend vor mir, immer männlich. Sie gehen am arbeitsfreien Sonntag zu den Bahnsteigen des Grazer Hauptbahnhofs, um ihrer Heimat näher zu sein. Die Geleise als ununterbrochene Verbindung mit Sarajewo, Belgrad, Pristina oder Istanbul. Für sie war dieser Ort, den sie nur sonntags aufsuchten, kein transitorischer. Es war ein Ort für ihre Sehnsucht nach dem, was vielleicht nie in Erfüllung gehen würde: dem Später, der Zukunft.
Für mich, die ich meine Heimat, meine Familie, Freunde und Sicherheit hier haben kann, sind und bleiben Bahnhöfe, Orte und Räume des Transits. Gut, dass es sie gibt. Man kann aus ihnen aufbrechen und über sie zurückkehren. C’est tout! Mehr braucht es nicht.

Christa Binder

Liebe Karin!
Beim Stöbern im Netz an einem verregneten Vormittag habe ich mit Genuss diesen Artikel gelesen. Ja, vielerorts ist es genauso.
Ein Bahnhof, der vielleicht ein bisschen aus diesem Rahmen fällt ist der Hauptbahnhof in Klagenfurt.
Hier ist es nach einem Wettbewerb, den damals Klaus Kada gewonnen hatte, zu mindestens gelungen, die große Halle zu öffnen und vom Kommerz weitestgehend frei zu räumen - was auch damals beim Wettbewerb eines der Hauptmotive des Entwurfs von Kada war. In der Halle befinden sich die Fresken von Giselbert Hoke, die zuvor jahrzehntelang immer mehr durch Reklamen und sonstige Affichierungen aus dem wahrnehmenden Gesichtsfeld der durchströmenden Reisenden ausgeblendet und verschwunden waren.
Kada selbst meinte damals, eigentlich wäre die Halle wie ein Museumsraum für die Fresken. Auf jeden Fall kommen die Fresken jetzt gut zur Geltung und sind ein erlebbarer Bestandteil des Raumes, auch durch Kadas geniales Konzept, nicht unterirdisch zu den Bahnsteigen zu gelangen, sondern in der Halle nach oben zu gehen und die Bahnsteige mittels einer Brücke zu erschließen. Der Wettbewerbsentwurf war allerdings noch radikaler, als der letztendlich durchgeführte Umbau. Die Bauausführung wurde von einem anderen Architekturbüro geplant.
Es stellt sich die Frage, nach der Verantwortung eines Verkehrsunternehmens als öffentlicher Auftraggeber und als Bauherr öffentlicher Orte. Hätte Graz eine Bahnhofshalle mit einem Werk von Peter Kogler ohne das Kulturhauptstadtjahr? Irgendwann, aber schon lange her und somit aus heutiger Sicht aus der Zeit gefallen, war es scheinbar doch wichtig, Kunst im Bahnhofs-Raum als etwas Wesentliches anzusehen.
Nach den Skandalen um die Wandmalerei in Innsbruck (Max Weiler) und Klagenfurt (Giselbert Hoke) in der Nachkriegs-Wiederaufbau-Ära von Bahnhöfen wurde von großzügiger künstlerischer Gestaltung weiterer Projekte weitestgehend, bis auf wenige Ausnahmen, Abstand genommen und ist heute – meines Wissens nach - versandet. Oder gibt es am Wiener Hauptbahnhof Kunst?
Mit besten Grüßen
Christa Binder

Fr. 29/06/2018 2:09 Permalink
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