04/02/2020

Jeden ersten Dienstag im Monat veröffentlicht GAT in der Kolumne Aber Hallo! Anmerkungen von Karin Tschavgova zu aktuellen Themen von Architektur und gebauter Umwelt.

04/02/2020
©: Karin Tschavgova

Das Augenmaß und sein Wert

Ich gestehe, dass ich den Zuruf „Mit Augenmaß …“ handeln oder bewerten oft mit Geringschätzung entgegengenommen und ihm auch oft widersprochen habe. Wer mich kennt, weiß warum. Zu oft schien und scheint mir dieser Rat zu sehr auf Kompromisse gemünzt und eine indirekte Aufforderung zu sein, Grundsätze und Grundsätzliches doch über Bord zu werfen und zu akzeptieren, dass vieles, stöhn!, ja soo schwer durchzusetzen ist. Wie oft musste ich mir anhören, dass der Weg zur Durchsetzung von mir ganz selbstverständlich Scheinendem mit Hindernissen und Widrigkeiten ungeahnter Art gepflastert ist, in die ich als Nur-Kritikerin und Theoretikerin natürlich keinen Einblick habe. Was kann man da noch entgegnen, ohne als naiv oder weltfremd oder eben zu grundsätzlich zu gelten. Obwohl man das natürlich nicht offen gesagt bekommt, sondern das Thema anders, eleganter, erledigt wird. Sie kennen das sicher: das sich gar nicht weltfremd einschätzende Gegenüber entschwindet, sich entschuldigend, weil es zum Buffet muss. Und recht hat es, mein Gegenüber, wenn es ein Glas Wein dem weiteren Gespräch vorzieht, denn für Augenmaß, im Sinne von: siehe oben, bin ich nicht die richtige. 
Allerdings weiß ich heute – aus einem gegebenen Anlass - den Begriff anders einzuordnen und zu schätzen. Und das kam so. 
Eine Architektin berichtete mir, dass ihr Antrag, den Vorgarten eines Gründerzeithauses in Geidorf neu zu gestalten, von der ASVK abgelehnt wurde. Der Grund: die Kollegin hatte Fahrradständer zum sicheren Versperren der Fahrräder und eine Einhausung für Müllkübel in der Vorgartenzone vorgesehen. Diese ist, das sei erwähnt, um einiges breiter als in den Gründerzeitvierteln üblich. Die Argumentation, dass es nicht praktikabel sei, jedes Mal Fahrräder und Müllkübel die Stufen von der Gartenseite hoch und zur Straße hin wieder hinunterzutragen, blieb unerhört, die Bewilligung verweigert. Der Clou dabei: die sorgfältig geplante Vorgartengestaltung wäre ein Rückbau des Jetzt-Zustands, der irgendwann vom Mehrheitsbesitzer einfach gemacht wurde, ohne Plan und ohne Genehmigung. Der Vorgarten ist jetzt völlig zugepflastert und versiegelt, an Grün blieb nur der grüne Zaun zur Straße. 
Nun komme ich auf das „mit Augenmaß“ zurück. Man verhindert eine Verbesserung des Ist-Zustands, weil diese nicht zu hundert Prozent dem entspricht, was zum Ende des 19.Jahrhunderts ohne Widrigkeiten wie die Müllabfuhr möglich war – Idylle im Vorgarten mit Rasenbeeten, Rosen und Hortensien. Zugleich hat man offensichtlich kein starkes Instrument in der Hand (oder man wendet dieses nicht an), um Hausbesitzer zu zwingen, Parkplätze, die sie an Stelle ihrer einstmals liebevoll gepflegten Vorgärten asphaltieren ließen, wieder rückzubauen. An Anschauungsbeispiel diene die Klosterwiesgasse. Die 100 Euro pro Quadratmeter an Zuschuss für einen Rückbau kosten die dort bequem Parkenden nicht mehr als ein Lächeln. 
Was also jetzt? Einen weitgehend zerstörten Vorgarten belassen, wie er ist? Das kann wohl keine ernsthafte Lösung sein bei unterschiedlicher Interessenslage. Außerdem ist das Beharren auf Durchsetzung starrer Grundätze beim Thema Vorgärten lächerlich. Zu einfach und rasch ließen sich Dutzende Beispiele dokumentieren, wo die „reine“, unversehrte Lösung der charakteristischen Vorgärten nicht mehr existiert, weil sie im Wildwuchs an heutige Ansprüche angepasst wurden – eben mit Müllkübeln, Fahrrädern und anderen Fahrzeugen.  
Seit Jahren ärgere ich mich darüber, dass sich am Ruckerlberggürtel, einer der schönsten Straßen der Stadt mit Allee, abends ein fetter BMW breitmacht vor dem Haus, in dem Jochen Rindt gewohnt hat. Der schränkt nicht nur den Hauszugang ein, sondern steht ärschlings auch so weit in den Gehsteig hinein, dass Fußgänger und Kinderwagen schiebende Eltern behindert werden. Allerdings ist der Vorgarten zu beiden Seiten erhalten. 
Nun tönt es mir schon in den Ohren: das eine hat mit dem anderen nichts zu tun. Richtig, aber mit Augenmaß schon. Denn mit Augenmaß handeln heißt, definiert mir Herr Duden, in angemessener Weise, besonnen und umsichtig, der Situation angemessen zu handeln. Mit zwei Augen ein Maß finden, nicht zweierlei Maße für ein immer gleiches Ansinnen: die Erhaltung der Vorgärten in der Gründerzeitbebauung. 

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