03/03/2020

Jeden ersten Dienstag im Monat veröffentlicht GAT in der Kolumne Aber Hallo! Anmerkungen von Karin Tschavgova zu aktuellen Themen von Architektur und gebauter Umwelt.

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03/03/2020
©: Karin Tschavgova

Ein Ausstellungstitel als Anregung zum Nachdenken

Wo Kunst geschehen kann ist der Titel einer Ausstellung, die ab 12. März im Kunsthaus Graz zu sehen sein wird. Gemünzt ist die Feststellung, die durchaus auch als Frage verstanden werden könnte, laut Kuratorenbeschreibung auf die legendären Gründungsjahre (1970–1980) der amerikanischen Kunsthochschule California Institute of the Arts (CalArts).
Mich hat sie zum Nachdenken angeregt, und das ist gut so, sagen mir sämtliche Ratgeber für richtiges Altern, die mich davor schützen wollen, dass meine „Aufmerksamkeitsspanne unter der eines Goldfischs liegt“, wie angeblich bei den Jungen, deren Gehirn, so behaupten sie, nur mehr auf Kurzzeitmodus programmiert ist. Mich hat der Titel aber auch zum Widerspruch angeregt (ein altes Leiden) und zur Gegenfrage, wo Kunst denn nicht geschehen könne.
Die Tendenz meiner ungeordneten, ganz und gar unwissenschaftlich „aus dem Bauch heraus“ formulierten Gedanken zum Thema, also ihr Gewicht, neigt sich in Richtung der Annahme, dass Kunst überall geschehen kann. Wir kennen das aus der Geschichte: den armen Poeten in seiner ungeheizten Dachkammer, der vielleicht schon das Papier seiner gesammelten Werke verbrennen muss. Aber geschrieben hatte er sie. Und wir konnten diese Annahme in beeindruckender Weise in der letzten Ausstellung im Grazer Kunsthaus sehen: in Kunst versus Handwerk zeigte Azra Akšamija Arbeiten, die mit und von Flüchtlingen im Flüchtlingslager von Al Azraq in Jordanien entstanden sind. Kunstausstellungen dienen Akšamija als Plattform, um das Bewusstsein für die kulturellen und emotionalen Bedürfnisse von Flüchtlingen zu schärfen, so erklärten es die Kuratoren.
Meine persönliche Schlussfolgerung: Kunst kann demnach überall entstehen. Was es dazu braucht, um mich, nicht nur bei Konzeptkunst, zu berühren, sind Geschichten. Entstehungsgeschichten, Lebensgeschichten können zu einer Art Verdichtung eines Werks führen, allerdings bei mir nur, wenn sie so als Beiwerk präsentiert werden, dass sie zwar die Phantasie anregen, mich „ergreifen“, aber die Arbeit und mein Eigendenken zugleich nicht zudecken und überfrachten. Was für ein altmodisch-schöner Begriff: Ergriffenheit. Keine Sorge, es trifft mich gar nicht, wenn Sie jetzt lachen.
Mir hilft er, mich an einige Kunstwerke zu erinnern, die mein Leben nachhaltig bereicherten. Olafur Eliassons The Weather Project 2003 in der Tate Modern, als die Menschen schlagartig verstummten, wenn sie den langgestreckten Raum der früheren Powerstation betraten – einfach, weil die raumgreifende Installation sprachlos machte. Viel früher schon konnte mich die Geschichte des Briefträgers Facteur Cheval und sein Palais Ideal im verschlafenen französischen Dorf Hauterives so beindrucken, dass ich 60 Kilometer weit mit dem Mofa anreiste und stundenlang im kleinen Obstgarten sitzen blieb. Was war das schon im Vergleich mit einem Lebenswerk, das unter solchen Bedingungen und so autonom zum Beginn des 20. Jahrhunderts zustande kam. Darf es noch ein persönliches Beispiel zur Architektur sein? Le Corbusiers Kirche in Ronchamp wollte ich in den 1980ern sehen und schlich mich, nachdem ich einen Zerberus von Türsteherin davon überzeugen konnte, dass ich die Konzertprobe eines Klarinettisten oder einer Klarinettistin nicht stören werde, in den Kirchenraum. Seitdem ist dieses unbeschreibliche Raumerlebnis mit Tönen der Klarinette in mein Gedächtnis eingebrannt.
Kunst kann also, davon bin ich felsenfest überzeugt, überall entstehen, unter unterschiedlichsten Bedingungen und Widrigkeiten, auch als Auftragskunst. Pardon, Konjunktiv! Denn als Letztere könnte sie auch entstehen. Der überdimensionierte rosarote Pullover, den Adabei-Dompfarrer Toni Faber als Neuinterpretation des Fastentuchs über dem Altar für den Stephansdom an Erwin Wurm in Auftrag gegeben hat, kostet mich nur ein Aber Hallo!. Als Kunst für mich zu billig: zu vordergründig, zu oberflächlich, zu aufgesetzt und bar jeder guten Geschichte. Was meinen Sie, werter Leser, werte Leserin?

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