05/05/2020

Jeden ersten Dienstag im Monat veröffentlicht GAT in der Kolumne Aber Hallo! Anmerkungen von Karin Tschavgova zu aktuellen Themen von Architektur und gebauter Umwelt.

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05/05/2020
©: Karin Tschavgova

Den größten „Schmarren“ nannte ein anonymer Verfasser die Coronabeiträge auf GAT im Kommentar und fügte hinzu, dass die Architekten glauben, kleine Philosophen zu sein. Wissend aus eigener Erfahrung? Zuletzt der Rat des unerkannt bleibend Wollenden: Schuster bleib bei deinen Leisten.
Nun ja, welche sind das aber? 
Per Definition im Duden ist der Philosoph „jemand, der nach dem letzten Sinn, den Ursprüngen des Denkens und Seins, dem Wesen der Welt, der Stellung des Menschen im Universum fragt.“ Nachdem die Welt sich stetig ändert und damit auch die Stellung des Menschen im Universum, muss der Philosoph wohl ständig „am Ball“ bleiben, das Weltengeschehen möglichst umfassend beobachten und seine Schlüsse daraus ziehen. Nicht anders ist die Bauhausidee geboren worden, zumindest nach dem Motiv seines Gründers Gropius: „Als Basis des Unterrichts stellte ich für das gesamte Institut das Ziel auf, dem Studierenden durch Erziehung seiner natürlichen Fähigkeiten das Leben in seiner kosmischen Totalität erfassbar zu machen, ein Ziel, das dem Unterricht an den üblichen abgetrennten Fach- und Spezialklassen unerreichbar ist.“ 
Der große Unterschied zur Philosophie und den Philosophen: die Architekten begnügen sich nicht mit der Erkenntnis, sondern wollen auch gestalten – 1920, nach den gravierenden Veränderungen der Arbeits- und Lebensbedingungen einer damals jungen Industriegesellschaft und einem verheerenden, Millionen von Opfern forderndem Krieg wollten sie einen Beitrag leisten zur Idee des neuen Menschen, für den man bessere Lebensbedingungen und – darunter subsumiert – gesunde Quartiere schaffen sollte. Weitergedacht – Obacht! – heißt das, dass man im Bauhaus die architektonische Gestaltung nicht nur für eine Stil- (damals noch aktuell) oder ästhetische Frage hielt, die letztlich keinerlei gesellschaftspolitische Relevanz besitzt, sondern der Architektur räumlich-künstlerische Wirkkräfte einräumte, die auf eher subkutane und nur schwerlich kalkulierbare Weise die Menschen berührt und ihr Miteinander prägt (nach Hanno Rauterberg*). 
Nun ist die Weise, mit Architektur Menschen zu prägen, ihr Leben zu verbessern, in der Tat „schwerlich kalkulierbar“ – schwer zu fassen, zu begreifen und noch schwerer zu erzeugen, aber eines steht für mich fest: nur mit technischem Know how, mit Managerqualitäten, mit guten Kooperateuren oder mit Ehrgeiz, den richtigen Seilschaften und Verbindungen im Hintergrund wird gute Architektur nicht entstehen. Während der Chirurg mir eine neue Hüfte implantieriert und in seinem Handwerk lediglich das rechte Maß, den richtigen Operationsverlauf wissen und die Herausforderungen der Ein- und Anpassung an meinen Organismus kennen muss, hat die Architektur mit allen und allem zu tun – mit Maß, Funktion, Gestaltung und Form als Ergebnis, auch mit Städtebau, mit sozialen Aspekten und Fragen zur Entwicklung der Gesellschaft, also der Soziologie, mit Fragen der Nachhaltigkeit und ….. Für viele von uns zweifelsfrei auch mit Kunst. Am Bauhaus war man davon überzeugt und drückte dies in einer viel weiter gehenden Universalität der Lehrgebiete aus, die da waren: Theater, Fotografie, Film und auch Musik. ArchitektInnen sollten Universalisten sein. Dieses Bild hielt sich noch bis in die Anfänge meiner Studienzeit, und ich erinnere mich, wie erstaunt und zugleich erfreut ich war, als Professor Dimitriou, der Kunsthistoriker, die Marx’schen Lehren mit der Bauhausideologie in Verbindung brachte. 
Noch heute sind mir jene unter den KollegInnen noch näher, die nicht fragend die Brauen heben, wenn man von John Berger spricht, die nicht verwundert sind, dass Architekten sich einen Generalpass für das Musikprotokoll besorgen und die an der Tätigkeit von Friedrich Achleitner als Architekturkritiker und -publizist einerseits und Mitglied der Wiener Gruppe und damit Dichter andererseits wohl das Außergewöhnliche sehen, nicht aber Sonderbares oder gar Befremdendes. 
Und so ist meine Haltung zu jenem Kommentar doch weitgehend erklärt: die kleinen Philosophen (Anonymos) unter den Architekten mögen mit ihrer Denkarbeit vielleicht nicht immer den Punkt treffen und danebenliegen, aber sie sind mir allemal lieber in ihrem Versuch, dem Wesen der Welt heute und der Stellung der Menschen auf den Grund zu gehen und daraus Schlüsse für ihre Arbeit zu ziehen, als die Nur-Pragmatiker, die Allesmacher und Lakaien unter den Architekten, die davon überzeugt sind, dass Architektur nur eine technische Dienstleistung ist oder über allem steht. Denken tut gut, gerade in diesen Zeiten. 

*) Hanno Rauterberg in: Die Kunst und das gute Leben, S. 131-132.

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