06/10/2020

Aber Hallo! 74

Jeden ersten Dienstag im Monat veröffentlicht GAT in der Kolumne Aber Hallo! Anmerkungen von Karin Tschavgova zu aktuellen Themen von Architektur und gebauter Umwelt.

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06/10/2020
©: Karin Tschavgova

Krisen als Chancen

Krisen können Chancen sein. Stimmt das oder ist es ein naiver Hoffnungsglaube? Der deutsche Psychiater und Ökonom (!) Stefan Brunnhuber spricht von Kairos, dem rechten, sogar magischen Augenblick im Verlauf eines Lebens, aber auch in einer Gesellschaft. Solche Momente würden auch durch Krisen ausgelöst, genau wie jetzt in der Pandemie. Kairos-Momente seien jedoch flüchtig und daher gelte es, die Gunst der Stunde zu ergreifen. Im Salzburger Nachtstudio der letzten Woche auf Ö1 brachte er ein schönes, hoffnungsfrohes Bild: Gerade jetzt sitzen wir alle am Steuer und entscheiden, wohin die Reise geht.
Krisen wie die aktuelle Pandemie schaffen, meinen viele der Experten, Bewusstsein dafür, dass wir unsere Lebensgewohnheiten ändern müssen. Der Zeitpunkt für die notwendige Einschränkung der Erderwärmung und die Umsetzung der Klimaziele sei günstig, denn jetzt werden riesige Konjunkturpakete geschnürt.
Ich habe Hoffnung, wenn ich im aktuellen Organ BIG der Stadt Graz lese, dass die Fußgängerzone zwischen Rathaus und Casino einladend neugestaltet wurde, dass man am Samstag nun gratis Bim und Bus benützen kann, sogar inklusive Schlossbergbahn, und dass am „Europaweiten Autofreien Tag“ die Neutorgasse symbolträchtig autofrei blieb und trotzdem von den PKW-Abhängigen weder wütende Proteste noch eine Revolte angezettelt wurde, weil der Verkehr dadurch offensichtlich nicht zusammenbrach. Dass der Grazer Advent heuer ohne Gastronomiestände stattfinden wird, trifft mich gar nicht. Auch wenn dieser Verzicht der Corona- Ansteckungsgefahr geschuldet ist, so bildet er vielleicht einen klitzekleinen Beitrag zum Klimaschutz, weil die Heizschwammerl eingepackt bleiben. Lach nicht so ätzend, Freundin! Du meinst, die Cafès und Lokale mit Schanigärten werden diese Einsparung heuer im Winter locker aufheben? Ach, lass mir doch die Hoffnung, dass sich etwas ändert im Bewusstsein der Leute und auch in Realita.
Hoffnung habe ich selbst noch für die nächste Sponsion der Fachhochschule Campus 02 in Zeiten von Corona, die uns ja noch länger begleiten wird. Denn das, was die FH bei der letzten, vor wenigen Tagen stattgefundenen Feier am Areal der Wirtschaftskammer an zerimoniellem Ablauf geboten hat, ließ mir die Haare zu Berge stehen. Zur „Drive-in-Sponsion“, aus der Kleine Zeitung, zitiert: „In drei Tranchen erhielten insgesamt rund 200 Teilnehmer in fünf Studienrichtungen ihr Diplom. Die meiste Zeit saßen dabei die Kandidaten samt ihren engsten Verwandten bzw. Freunden im Fahrzeug (nur ein Auto war pro Absolvent erlaubt), verfolgten via eigener Radiofrequenz und Videowall das Geschehen und konnten sich dazu Popkorn genehmigen.“…“Die eigentliche Choreografie der Sponsion war dann sehr speziell. Die Rektorin las den akademischen Eid vor und die Absolventen „beschworen“ den Eid, indem sie die Autohupe drückten. Nach und nach fuhren dann die Fahrzeuge auf eine eigene Rampe. Während die Familie im Auto verblieb, durften die Absolventen aussteigen, sie erhielten das Diplom und ihnen wurde gratuliert.“ Ein Hupkonzert der Kollegen durfte nicht fehlen.
Die ungewöhnliche Feier war laut Umfrage schön, originell und wird den Absolventen noch lange in Erinnerung bleiben. Was also daran bemäkeln?
Nun ja, der Kairos-Moment scheint weder bei den Organisatoren, etwa dem Geschäftsführer der Fachhochschule, noch bei den Absolventen, zum Beispiel jenen des Masterstudiums Internationales Marketing, angekommen zu sein.
Was für ein Zeichen in Graz, wo nun endlich mehr und mehr Bewusstsein dafür entwickelt wird und Maßnahmen getroffen werden, um den motorisierten Individualverkehr aus der Stadt draußen zu halten. Was für ein Zeichen gerade jetzt, wo man langsam amtsseitig erkennt, dass neue, gut ausgebaute Radwege, Fuzo-Gestaltungen, attraktive Verweilplätze und mehr Grün in der Stadt ein mehr an Lebensqualität bringen? Dass man Menschen dann wieder vermehrt in die Innenstadt bringt, wenn sie zum Flaneur werden können. Wenn der öffentliche Raum einladend und abwechslungsreich ist. Und, Freunde von der FH Campus 2, wenn wir endlich verstehen, dass solch ein Stadtraum nur gut funktioniert, wenn wir akzeptieren, dass der Blechtrottel, ob fahrend oder parkend Platz verstellend, dabei weitgehend draußen vor bleiben muss. Bei künftigen Corona-Sponsionen als Symbol und Vorbild, im städtischen Alltag in Realita.

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