02/12/2020

Ein Text von Otto Kapfinger anlässlich des 90. Geburtstags von Architekt Gunther Wawrik und zum Erscheinen seines Buchs Die Bergstadt. Eine Fiktion

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Eva Guttmann, Gabriele Kaiser, Claudia Mazanek / Diachron – Verein zur Verbreitung und Vertiefung des Wissens über Architektur (Hg.)
Gunther Wawrik:
Die Bergstadt. Eine Fiktion

Park Books, Zürich, 2020,
112 Seiten, 46 farbige und
21 sw. Abbildungen
16 x 24 cm, broschiert
Gestaltung:
Clemens Theobert Schedler
ISBN 978-3-03860-206-4
€ 29,00

 

02/12/2020

Seiten aus dem Buch "Die Bergstadt. Eine Fiktion" von Gunther Wawrik, 2020 ....

©: park books
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Cover

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Gunther Wawrik, 2020. Foto: Claudia Mazanek

©: Diachron

Ein Beitrag zum 90. Geburtstag von Architekt Gunther Wawrik,
und zum Erscheinen seines neuen Buchs Die Bergstadt. Eine Fiktion

Gunther Wawrik, Jahrgang 1930, zählt zu den prägenden Architekten Wiens in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, über weite Strecken gemeinsam mit seinem wunderbaren Partner Hans Puchhammer – der nächstes Jahr 90 wird.
    Wawriks Buch Die Bergstadt. Eine Fiktion, ist die Dokumentation dieses zauberhaften, akkurat erdachten Traumgebildes, wo er – ausgerüstet mit dem ganzen Erfahrungsschatz seines fachlichen und sonstigen Lebens – noch einmal abhebt in eine reale, not-wendige Fiktion, mit der er die magische Welt seiner Kindheitsprägung, sagen wir: seinen Mythos, auf einer neuen Ebene aktiviert und über all das hinaushebt in eine visionäre Vorstellung, wie es sein könnte – nicht faktisch, sondern wie es sich anfühlen und wie es leben könnte, wenn… Es ist ein eminent poetisches Zeugnis der Summe seines handwerklichen und geistigen Lebenswegs, das eine ausgesprochen handliche, federleichte und sinnlich/geistig beflügelnde Lektüre ist, ein positives Pamphlet, auch wenn es im Vorspann einige abgründige, verstörende Aspekte bietet.

Lieber Gunther!
Wir kennen uns seit viereinhalb Jahrzehnten und von Anfang an ist mir aus Deinen Gesprächen und Kommentaren, Deinen Gesten und fachlichen Aktivitäten etwas singulär und vorbildlich aufgefallen, das über das rein Fachliche hinausgeht bzw. dieses charakteristisch färbt und grundiert: diese Eigenschaft habe ich als Messlatte, als Vision für eine vielleicht auch mir mögliche, erstrebenswerte Entwicklung empfunden und mir vor vielen Jahren schon mitgenommen: was also war und ist das?
    Andere „Kapazunder“ in der Wiener Architektur-Szene haben doziert, Du aber hast evoziert! Bei Dir hatte ich immer den Eindruck: Er will mich nicht belehren oder aufklären oder vorweg überzeugen, vielmehr interessiert ihn in allen auftretenden Fragen, Themen, Diskussionspunkten intensiv auch einmal mein Standpunkt, generell der Standpunkt des Anderen, des Gegenübers, und daran hast Du dann Deine Aussage und Stellungnahme, Deine Sichtweise gemessen, geschärft, weiter differenziert und bist von da in eine nächste Rückkoppelung gegangen, das heißt: Du hast in Deiner Antwort, in einer weiteren Frage oder in einem nächsten Argument Deine Ansicht prinzipiell für eine feinere Differenzierung und Schärfung, sogar „Korrektur“ aus gegenseitiger Resonanz heraus offen gehalten, interessiert gehalten…
    Das meine ich, wenn ich sage: Wawrik hat niemals doziert, sondern stets evoziert, ähnlich der gewitzten sokratischen Fragetechnik, die aber doch mehr „erzieherisch“ angelegt und letztlich vorweg von der Warte latenten „Besserwissens" aus gesteuert war. Und anders als bei Sokrates’ Dialogen hattest und hast Du kaum je ein vorgefasstes Ziel im Sinn, das Ziel war und ist vielmehr, im gemeinsamen Hin- und Herspielen der Gedanken, der Ansichten und Argumente auf etwas zu kommen, was als Ziel noch gar nicht bekannt ist, was sich erst aus diesem Prozess konstruktiv und kreativ herausstellt…
    Jenseits der vorbildlichen fachlichen Aspekte und Qualitäten ist mir dieser grundlegende, alles Übrige tragende Charakter von Dir als das Wichtigste begegnet und ist mir weiterhin Vorbild – und da bin ich sicher nicht allein.

Geschätzter Gunther, wie haben wir uns kennengelernt vor über vierzig Jahren?
    Die Architekten Puchhammer/Wawrik waren Adi Krischanitz und mir um 1975/76 aufgefallen. In der Buchhandlung Prachner in der Kärntner Straße gab es einen neuen Katalog „Österreichische Architektur 1945–1975“. Wir kauften den, weil ganz hinten, auf losen Faltblättern eines tabellarischen Zeit- und Themenrasters auch eine Arbeit von uns vermerkt war und weil im Buchkern am Ende unter dem Titel „Utopien – Konzeptionen“ Fotos aus unserer frühen Missing-Link-Zeit dabei waren. Und in dem weißen, quadratischen Katalog mit der roten Schriftzeile war im Teil „Wohnungsbau“ die Terrassensiedlung „Goldtruhe“ von Puchhammer/Wawrik prominent abgebildet, weiters bei den Einfamilienhäusern eines mit ungewöhnlich großer, diagonal geöffneter Fensterwand am Hang, beschattet von darüber auskragendem Terrassenteil. Dann das Museum in Eisenstadt, eine in dieser Art für uns neue, sensitive Umformung heterogener Altbauten und das dammartige, abgetreppte Großprojekt für die UNO-City an der Donau, wo Puchhammer/Wawrik in der zweiten Runde als lokale Partner eines englischen Teams agierten – auch das fiel uns auf und war viel interessanter als der ausgeführte Plan von Johann Staber.
    In diesem heute immer noch sehr illustrativen Katalog dabei zu sein, verdankten wir wohl dem damals blutjungen Dietmar Steiner, der als Student im Team der ÖGfA mitwirkte, der die Auswahl der „jungen“ Beiträge betreute und mitverantwortete und uns im Atelier besucht hatte. Und wir waren ja auch unter den rund 20 TeilnehmerInnen einer neuen „Wiener Szene“ gewesen, die 1974 in der ÖGfA mit der Ausstellung „Konfrontationen“ vorgestellt wurden. Wesentlicher Mentor dieser kleinen Schau, mit Alessandro Alverà, Luigi Blau, Hermann Czech, Heinz Frank, Helmut Grimmer, Otto Häuselmayer, Wilhelm Kainrath, Franz Kneissl und Elsa Prochazka, Manfred Nehrer und Reinhard Medek, Dimitris Manikas, Roland Schachel u.a. war Heinz Tesar, mit dem wir uns auf seine Initiative hin befreundet hatten. Und Tesar war mit Wawrik wiederum auch ein Hauptredakteur der erwähnten Österreich-Schau von 1975.
    Die persönliche Bekanntschaft mit Wawrik kam 1977. Es war das Jahr des vielbeachteten urbanistischen Wettbewerbs für das Wiener Rennweg-Areal, wo Puchhammer/Wawrik zu den Preisträgern zählten und in die zweite Runde aufstiegen, wo Krischanitz und ich mit Othmar Sackmauer und Klaus Semsroth mitgemacht hatten, aber nichts gewannen. Doch wir publizierten dann – noch unter „Missing Link“ – in einer Broschüre mit dem Titel „Wiener Typen“ den Weg zu dem von uns bearbeiteten Wohnbau-Teil dieser Konkurrenz.
    Wir brachten einen Stapel dieser Broschüre auf Kommission zu Prachner, wo sie sich gut verkaufte, wir etablierten unser erstes richtiges Atelier am Getreidemarkt, erstmals mit „ganzem“ Telefonanschluss. Da kam ein Anruf von Gunther, er hätte unseren Rennweg-Entwurf gesehen, speziell das Wohnbaukonzept sei ihm aufgefallen, er würde uns gerne sehen und darüber diskutieren. Und so stand er eines Tages in unseren frisch ausgemalten Räumen neben der Secession: interessiert, kollegial gesprächig, freundlich-kritisch alles beäugend, befragend…
    So begann das und es folgte sogleich Wawriks Einladung zu einer Generalversammlung der ÖGfA, wo er und Johann Georg Gsteu, der Vorsitzender war, einer Handvoll anwesender Junger das Angebot machten, der ausgepowerten ÖGfA wieder aufzuhelfen und im Vorstand mitzumachen. Das war 1977/78.
    Im nächsten Jahr wurde Wawrik Vorsitzender, Felix Orsini-Rosenberg Sekretär – auch er ein Freund Wawriks aus Studienzeiten am Karlsplatz. Mit Wawrik, Achleitner, Steiner und anderen gründeten wir 1979 das Halbjahres-Magazin UM BAU als kritisch-publizistisches Organ der ÖGfA. Und so ging das weiter…
    1980 separieren sich Gunther und Hans Puchhammer büromäßig; 1985 wird Wawrik auf eine Professur nach München berufen und zieht sich aus der ÖGfA und aus Wien etwas zurück. Aus diesen Jahren ist mir sein leider nicht gebauter Entwurf für ein prägnantes Büro-Eckhaus in der Singerstraße, im Stadtkern Wiens, als wegweisend bis heute lebhaft präsent!
    Ich überspringe jetzt dreißig Jahre und halte fest, dass sich unsere freundschaftliche Beziehung mit Deinem kritischen Engagement zu akuten Planungsfragen Wiens – und mit Deiner bewundernswerten Fürsorge für Margherita Spiluttini, die ich ja seit 1970 gut kenne – erneuert und vertieft hat. Wir haben in den letzten Jahren oft wöchentlich telefoniert, x-mal gemailt.

Wir feiern jetzt auch das Erscheinen des Buches über ein von Dir, lieber Gunther, seit Jahren „ausgebrütetes“ Thema, über eine typologische Passion, die sich von den Terrassen der „Goldtruhe“ und über viele andere Projekte als verbindendes Merkmal heraufzieht und die nun ihre holistische, umfassende Ausprägung erhalten sollte: Die Bergstadt. Eine Fiktion.
    Bevor ich darauf eingehe, ein kurzer Rückblick: Im Jahr 2000 hatte die Fachhochschule München dem Werk und Leben ihres scheidenden Städtebauprofessors Wawrik einen Katalog gewidmet – seine bisher einzige monografische Publikation: im Umfang und Auftritt moderat, aber inhaltlich hochpotent. Gunther überschrieb es mit dem Motto „Architektur zwischen Bricolage und Instrument“. Und er legte den in der Szene höchst ungewöhnlichen, sperrig rätselhaften Titel auf acht ebenso ungewöhnlich illustrierten Seiten textlich feinsinnig und – sowohl aus praktischen als auch aus theoretischen Aspekten gut genährt – völlig einleuchtend aus. Es war kein Manifest, vielmehr eine verführerisch intelligente Denk-Schrift.
    Als wichtige Referenz, die schon im Titel anklingt, bezog er sich auf die Gedankenwelt des bedeutenden französischen Ethnologen und Sozialanthropologen Claude Lévi-Strauss. In dessen Buch Das wilde Denken, um 1970 auf Deutsch erschienen, wird der rein zweckrationalen, konstruktivistischen Auffassung, welche die westliche Konsumgesellschaft aus ökonomischem Kalkül nach wissenschaftlichen Paradigmen legitimiert und zukunftsbezogen ausrichtet, die ganzheitliche, mythopoetische, konkret gegenwartsbezogenen Welt- und Lebenssicht der sogenannten „alten“ oder naturnah exotischen, „primitiven“ Gesellschaften entgegenstellt.
    Lévi-Strauss fasst diesen Gegensatz in das Gegenüber idealtypischer Charaktere – hier der rationale Fachmann, der wissenschaftlich induktiv vorgehende Ingenieur, dort der intuitive, improvisierende Bastler, der im Augenblick, ad hoc mit den Gegebenheiten auskommende und diese gewitzt umdeutende Bricoleur. Man kann das im Detail ja wunderbar nachlesen. Ich fasse das in Bezug auf das heute vorgestellte Buch sehr provisorisch auf ein paar Hauptpunkte zusammen:
    Das mythisch-wissenschaftliche Denken schließt immer vom Ganzen aufs Einzelne; das rationalistisch-wissenschaftliche Denken extrapoliert vom Einzelnen auf ein Ganzes. (Wir erinnern uns z.B. an die Passion von Konrad Wachsmann: mit der Erfindung des Universal-Knotens sollten alle Fragen und Probleme künftigen industriellen Planens und Bauens lösbar sein…). Das wilde, mythische Denken liebt die Ganzheit, Harmonie im Kontext; das kartesianisch-wissenschaftliche Denken liebt die Wahrheit, das abstrakt Objektive;
    Dem Bricoleur ist jede Erfahrung gleich wichtig, jedes Material gleich wertvoll, ihm sind die Dinge flüchtige Phänomene, Realität sind die unteilbaren Ereignisse; der Ingenieur glaubt an die je avancierteste Technologie, ihm sind die teilbaren Dinge Basis der Welt und Ereignisse bloß Wechselwirkungen von Dingen.
    Das Ingenieurwesen liebt, ja braucht die tabula rasa, die vollkommene Löschung dessen, was da war, und braucht für seinen „Neubau“ avancierte Stoffe und Techniken, um sie widerspruchsfrei für Werke „aus einem Guss“ einsetzen zu können; Bricolage hingegen kann jederzeit spielerisch auskommen mit allem, was zur Hand ist, sie nutzt auch ganz Disparates, Zufälliges oder Reste und transformiert es, fügt es zu neuen hybriden Ganzheiten. Sie schafft Zustände, die ihrerseits wieder als Durchgangsstadien, als Material für weitere Transformationen offenstehen.
    Lévi-Strauss sieht in solcher Gegenüberstellung aber keine unversöhnliche Dichotomie, sondern die beiden Seiten derselben Medaille und versucht das Disparate aus dem Konflikthaften heraus für eine neue, komplexere Einheit zu aktivieren, ins Dialogische zu stimulieren. Dazu nur ein kurzer Satz aus seinem Riesenwerk: „Der Unterschied ist also nicht so absolut, wie man ihn sich vorzustellen versucht wäre; er bleibt jedoch in dem Maße wirklich, wie der Ingenieur in bezug auf jene Zwänge, die einen Zivilisationszustand zum Ausdruck bringen, immer einen Durchgang zu öffnen versuchen wird, um sich darüber zu stellen, während der Bastler freiwillig oder gezwungen darunter bleibt; mit anderen Worten, der erstere arbeitet mit Hilfe von Begriffen, der letztere mit Hilfe von Zeichen.“
    Was in meiner waghalsigen Kurzfassung schon so brisant nur anklingt, ist bei Lévi-Strauss noch viel tiefgreifender, feinmaschiger und weittragender recherchiert und ausformuliert – in einem funkelnden, enorm vielschichtigen Sprachgewebe ebenso anspruchsvoller wie suggestiver Prosa: ein Prunkstück frankopohoner, geschliffener Geistigkeit, gespeist aus all ihren Quellen und Marksteinen von der Aufklärung bis zum Existenzialismus und zum Strukturalismus, den er ja begründete und dessen spätere, populäre Ausblühungen er postwendend wieder scharf kritisierte.
    Erstaunlich nun, wie ein Wiener Architekt, noch dazu prägend geschult durch den romantischen Propheten und Zuchtmeister industriellen Bauens Konrad Wachsmann, aus solch fordernder Lektüre so elegante Essenzen und Schlüsse zu ziehen und darzustellen vermag, wie es Wawrik in der genannten Schrift gelingt. Er steht damit für mich – lokal gesehen – in einer Linie oder Reihe von Josef Frank bis Hermann Czech und in weiterem Rahmen von Alison und Peter Smithson bis zu Rem Koolhaas oder Lacaton/Vassal, wobei er sofort solche Vergleiche lässig, amüsiert parieren und beiläufig entkräften würde.

Mit dem vorgelegten, so handlich gestalteten Buch zur Bergstadt hebt er seine schon lange durchdachte und in verschiedenen Projekten angesteuerte Verschränkung der genannten Denk- und Handlungsstile in eine ganz große, sinfonische Fiktion: Die Bergstadt ist eine Transformation aus vorher nur partiell in Einzelprojekten oder mittelgroßen Planungen spürbarer Gedanklichkeit in die Totalität eines Welt-Entwurfs.
    Im Buch kommentiert Wawrik die anschaulich gebotenen Skizzen, Perspektiven, Grundrisse, Schnitte und die Fotos des großen Modells, das gemeinsam mit begeisterten Studierenden der TU Wien gebaut wurde. Am Schluss erläutert ein luzider Essay von Eva Guttmann und Gabriele Kaiser die Motive und Grundlagen dieser Fiktion, mögliche Vorbilder, Inspirationen allgemein und speziell. Ich möchte das mit ein paar Beobachtungen ergänzen, welche die Reflexion und Diskussion weiter stimulieren könnten.
    Die Herausgeberinnen verweisen in ihrem Text auf den riesigen historischen Fundus großartiger Bergstädte, Stadtburgen, Zitadellen, Tempelberge, die angesichts dieser Fiktion sofort anklingen, mitschwingen. Die Eindrücke seiner Kindheit mit dem Blick über die Salzach-Ebene auf Hohensalzburg bringt Gunther mit weiteren erbaulichen und auch bedrohlichen Bildern der „Eroberung oder Besiedelung der Höhen“ als knappen, sehr anregenden Vorspann. 
    Seine Bergstadt subsumiert all die mythopoetischen und konkreten Assoziationen dieses Topos, befreit sich aber in mindestens einem Brennpunkt energisch von archaisierender Verhaftung. In allen alten Ensembles dieser Art besetzte die Spitze, das Zentrum des Bau- und Lebensgefüges entweder die Burg, das Kastell mit dem Bergfried oder der Dom, die Abtei mit dem Kirchturm oder ein Haupttempel und dergleichen (von Athen, Lhasa oder Shatrunjaya bis Prag, Salzburg, Laibach, Nürnberg usw.). Es ist die klassische Hierarchie, die exklusive Besetzung und Markierung des exponiertesten, dominierenden, ausgezeichneten Platzes. In Wawriks Bergstadt aber ist der Bergkamm, der oberste Rücken unbebaut gedacht, freigehalten als leere Mitte, offener Festplatz, freie gemeinnützige Wiese in der Besonderheit der großen Horizontalität auf der „Spitze“ der Stadtpyramide…
    Aus der Vogelschau zeigt sich als Hauptstruktur der Siedlung die Spur von zwei spiralförmigen Straßen – eine hinauf, die andere hinunter – und sie sind gegengleich ineinander verschlungen in der Geometrie, in einer Figuration, die das Grundmodul eines der global wichtigsten, ältesten und langlebigsten Ornamentmuster darstellt: den „Laufenden Hund“ bzw. den „Doppelmäander“. In der DNA dieses universellen Ornaments dreht sich eine Spirale von außen ins Zentrum hinein und die zweite windet sich reversiv aus diesem Zentrum wieder hinaus – eine gekurvte oder auch orthogonale Wellenbewegung.
    Der Grundriss von Wawriks Bergstadt hat also eine mythopoetische Signatur: den Doppelmäander. In der Antike bedeutete dieses Kürzel die Erlangung der Ewigkeit als Dauer in der Zeit durch Reproduktion: Ein alterndes Wesen setzt ein junges an seine Stelle und erlangt so Unsterblichkeit. Das ältere Wesen rollt sich zusammen, während das junge sich entfaltet. Es referiert auf den alt/jungen Gott Eros und die sich ewig erneuernde Energie des Kosmos.
    Dieselbe Signatur hat auch das Yin-Yang-Zeichen, das die komplementäre, ineinander verschränkte Rolle elementarer Gegensätze signalisiert: Tag/Nacht; Himmel/Erde; hell/dunkel; Feuer/Wasser; männlich/weiblich; heiß/kalt usw.
    Die Doppelspiral-Struktur der Bergstadt ist dann aber überlagert von den Strahlen der in Falllinie orthogonal über sie hinwegführenden geraden Radialstraßen. Solche radialkonzentrische Figuren bilden eine Form der neuzeitlichen, rationalen Organisation von Stadtkörpern, eine andere ist das orthogonale, zentrumslose Rasternetz. Wawriks Bergstadt verknüpft also signifikant krumme, „natürliche“ Formen mit „künstlichen“, radialen Geraden, „Organisches“ mit „Rationalität“. Das eine wäre die zwiebelhafte Struktur archaischer, ein „heiliges Zentrum“ mit äußeren Schichten und Schilden einhüllender Topos, das andere die zentralperspektivische, unendliche Rationalität im Sinne von Renaissance und Aufklärung.
    An diesem Punkt drängt sich unweigerlich ein legendäres städtebauliches Manifest als Gegenbild bzw. Folie der Debatte auf: Städtebau von Le Corbusier, in deutscher Fassung 1929 publiziert und sicher eines der wichtigsten Werke des Genres im 20. Jahrhundert. Corbusier entwickelt seine ganze Argumentation genau aus diesem Gegensatz zwischen der krummen und der geraden Straße, zwischen archaischer Naturhaftigkeit und moderner Konstruktivität. Schon auf den ersten Seiten spannt er die alles durchwirkende Dialektik des Buches auf: „Der Mensch schreitet geradeaus, weil er ein Ziel hat; er weiß wohin er geht, er hat sich für die Richtung entschieden und schreitet in ihr geradeaus. Der Esel geht im Zickzack, döst ein wenig, blöde vor Hitze und zerstreut, geht im Zickzack, um den großen Steinen auszuweichen, um sich den Anstieg sanfter zu machen, um den Schatten zu suchen. Er strengt sich so wenig wie möglich an.“
    Es ist aus heutiger Sicht wohl keine Frage, wer von den beiden uns sympathischer ist, zumal aus wienerischer Sicht, wer da ökonomischer, komfortabler, weltschonender und geschmeidiger agiert. Doch Corbu verbeißt sich da hinein und macht es noch schärfer: „Die gekrümmte Straße ist der Weg der Esel, die gerade Straße ist der Weg der Menschen. Die gekrümmte ist Ergebnis der Laune, der Lässigkeit, der Ermüdung, der Tiernatur. Die Gerade ist ein Widerstehen, ein bewusstes Handeln, das Ergebnis der Herrschaft über sich selbst, sie ist gesund und edel.“ Und weiter: „In Deutschland hat man um 1900 die Religion des Eselsweges ins Leben gerufen (…) die Folge einer Arbeit Camillo Sittes über den Städtebau, eines Werkes voll von Willkürlichkeit: Verherrlichung der geschwungenen Linie (…) gezeigt an alten Kunststädten des Mittelalters (…) ein erschreckendes, widersinniges Verkennen im Zeitalter der Automobile (…) Der Verkehr erfordert die Gerade. Die Gerade ist gesund auch für die Seele der Städte. Die Kurve ist verderblich, schwierig und gefährlich. Sie lähmt.“
    Le Corbusiers Argumentation ist in beiden Richtungen polemisch überspitzt, haltlos verkürzt. Er preist die neuen Ingenieure, ihre technisch-maschinelle Geradlinigkeit als Herrscher über die Natur, und er denunziert die alten, naturnahen Planungen als sentimental und blöde. Er wirft jedoch den Ingenieuren, den „edlen Wilden“ der Neuzeit, ihren Mangel an Poesie und künstlerischem Esprit vor und extrapoliert zugleich Bruchstücke alter Stadträume und -figuren in seine neue, moderne Stadtvision – ihrer raumkünstlerischen und formalen Qualitäten wegen. Er rügt zwischendurch sogar die gerade Straße als „abscheulich und traurig, sehr langweilig“, und konzediert der gekurvten „Überraschungen aufeinanderfolgender Bilder“ Konturen, Malerisches. An einer Stelle heißt es: „Das Malerische ist ein Genuss, dessen Übermaß aber rasch ermüdet.“
    Corbus Naturell, seine rhetorisch so mitreißende und inhaltlich meist so krude Sprache ist janusköpfig. Einerseits ist er der maschinenfaszinierte Ingenieur, der die Architektur auf die technische Höhe der Autoindustrie heben will, andererseits ist er der sensitive bildende Künstler, der über Jahre sich halbtags im Atelier der Malerei widmet, der auf seiner Mittelmeerreise die Qualitäten von Antike und Renaissance und auch seinen Camillo Sitte penibelst studiert hat und der nun die seelenlose Technik und Massengesellschaft, generiert aus Abstraktionen, Verdinglichungen, wissenschaftlichem Reduktionismus und Henry Ford’scher Rationalität in eine Sphäre – ihre bislang latente Sphäre – poetischer, neuer Ganzheit heben will.
    Am Ende steht in Städtebau – gespickt mit Statistiken und Diagrammen und auch mit suggestiven alten, neueren und künftigen Stadt-Bildern – am Ende steht da der Satz: „Meine Theorie bezieht sich auf ebenes Terrain. Auf unebenem besitzt die Kurve von vorneherein gesicherte Rechte (…) das Malerische wird Notwendigkeit!"

Ist das nicht der Startplatz nun für Wawriks Fiktion?!
    Le Corbusier verfolgt seine angespannte, bipolare Strategie das ganze Leben lang, im Spätwerk kommt freilich die intuitive, die ganzheitlich-poetische Seite und – wenn wir an Ronchamp oder La Tourette denken – die fast primitiv-künstlerische Seite entschieden in den Vordergrund, während sich all die urbanistischen Visionen, auch der CIAM, die Corbu lange dominierte, im Alltag zu grotesken Karikaturen ihrer ursprünglichen Intention entwickelten, dies freilich jenseits der Reichweite einzelner Architekten als Folge der gesamten wirtschaftlichen, ökonomisch selbstreferenziellen Dynamik des Konsum-Kapitalismus.
    Ich meine nun, wir können die Bergstadt-Fiktion des Gunther Wawrik geradezu als Entgegnung lesen, als Anti-Corbu: Eine Stadt ohne PKW-Kreuzungen und Gegenverkehr, wo Autos an den Rand gedrängt sind und es überwiegend attraktive, kurze Fußwege gibt und viele lautlose Verkehrsmittel. Wir können sie als eine alternative Bilanz sehen nach der Entzauberung des hymnischen Modernismus, der Allmachtsfantasien der autogerechten Geraden und der schwer überschätzten menschlichen Intelligenz, die angeblich den tierischen oder unzivilisierten Instinkt so meilenweit, so turmhoch überrage.
    Wawriks „opus contrarium“ ist keine Geste der Flucht zurück in die erhabene Welt der Berge, denn auch die gibt es ja nicht mehr, wie er eingangs des Buches klarmacht. Es ist vielmehr eine Rezeptur, ein fiktional-unpathetischer Anstoß zu einer ganz allgemeinen, zu einer gedanklichen, habituellen Wende. Wir sehen in seinem Entwurf die zitierten Antagonismen, gespielt von der Kurve und der radialen Gerade, in höchst intensiven, dreidimensionalen Dialog verstrickt, aus dem enorme räumlich-habituelle Situationen entstehen. Das bricolagehaft Gebastelte und das ingenieurhaft Instrumentelle agieren hier konstruktiv kontrapunktisch. Die Botschaft des Lévi-Strauss findet eine angewandte Illustration!
    So sagt uns diese Fiktion generell: Die Polarität zwischen Natur und Artefakt als ökologische Herausforderung zu bewältigen, wird eine Verschmelzung von „rationalen“ und „wilden“ Denk- und Handlungsweisen benötigen. Nicht eine Dogmatik, welche das jeweils andere ablehnt, sondern eine Intelligenz, die durch beides hindurchgeht, die Technik und Natur, Industriewelt und Bastlerwelt nicht nostalgisch vermittelt, sondern beides radikal, aber nun eben interdependent weiter entwickelt.
    Ich denke, es passt jetzt ausgezeichnet, wenn ich ein Wort von Corbusier als Schlusswort zu Wawriks Bergstadt zitiere: „Die Stadt ist ein gewaltiges Bild, das unseren Geist aktiviert. Weshalb sollte die Stadt nicht, auch heute noch, eine Quelle der Poesie sein?“

   Otto Kapfinger

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