17/03/2021

Die Stadt:
ein Verteilungsereignis
Teil 1 von 3

Essay von Bernhard Hafner

in der GAT-Reihe sonnTAG

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17/03/2021

Abb. 1: Graz, Kupferstich nach M. Merian 1649. 
Siehe Link:
https://www.google.com/search?q=Graz,+Kupferstich+von+M.+Merian,+1649&t… =isch&source=univ&client=firefox-b- d&sa=X&ved=2ahUKEwiMgq_J1uPiAhUvl4sKHemLDzsQ7Al6BAgFEA8&biw=842&bih =611&dpr=1.5
Bildnachweis: digitales Original Foto. historic Art, Antiquariat & Kunsthandwerk, Wiesbaden-Beckenheim;
Screenshot: Bernhard Hafner

©: Bernhard Hafner

Abb. 2: Die Zähringer Gründung Bern 1191
Siehe Link:
https://www.spektrum.de/lexika/images/geogr/fff58_w.jpg
Bildnachweis: eigener Scan, wahrscheinlich nach John Reps. Scan: Bernhard Hafner

©: Bernhard Hafner

Abb. 3: Lübecker Stadtansicht des Elias Diebel, detaillierter Holzstich von 1552 
Bildnachweis: gemeinfrei, This image is in the public domain due to its age. Siehe Link https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/5/5b/WP_Diebel_L%C3%BCbe… New Orleans;
Screenshot: Bernhard Hafner

©: Bernhard Hafner

Abb. 4a
: NewOrleans 1764; Scan: Bernhard Hafner

©: Bernhard Hafner

Abb. 4b: 
Bildnachweis: getty images, s. Link: https://media.gettyimages.com/photos/bourbon-street-new-orleans-picture- id78396369?k=6&m=78396369&s=612x612&w=0&h=i1eiUI6q2OLgrBJyg6PjT0PhZS pHIalswlG91irmvDc= ; Screenshot: Bernhard Hafner

©: Bernhard Hafner

Abb. 5a: San Francisco 1848; Scan: Bernhard Hafner, wahrscheinlich nach John Reps.

©: Bernhard Hafner

Abb. 5b: San Francisco heute, Ausschnitt. 
Bildnachweis: Getty images, s. Link: https://media.gettyimages.com/photos/the-golden-gate-bridge-and-the-san- francisco-bay-are-seen-from-above-picture- id492064784?k=6&m=492064784&s=612x612&w=0&h=q- oNJzy22ATquId8jL5jQXLPslUTMHtmyXj4Jx3oilc= ;
Screenshot: Bernhard Hafner

©: Bernhard Hafner

Die Stadt ist ein Ereignis der Verteilung von Baumasse in einer kommunalen Infrastruktur. So sieht es die städtebauliche Lehre: Als ein von Planern geschaffenes Objekt der Verteilung von Bauten und Räumen nach ästhetischen Grundsätzen. Die Verteiler sind Stadtplanungsämter, Investoren und Architekten. Shadrach Woods (1) meinte in einem Vortrag 1964 in der Entwurfswoche Symposion in Berlin dazu, die Methode habe viel mit japanischer Blumenbinderei gemein. Es bezog sich auf die Situation in Architektur und Städtebau der Zeit, in der auch ich einen ähnlichen und anders als konventionellen Weg ging. An der Konvention hat sich nichts geändert. Wenn wir aber weit genug in die Architekturgeschichte zurückblicken, dann finden wir über Blumenbinderei hinausgehende Kompositionen.

Etwas Verteilungsgeschichte:
Was sind Merkmale eines raumordnenden und gestalterisch wirksamen Systems? Ein externer Einfluss ist räumliche Beschränkung einer uferlos möglichen Ausdehnung. Eine Ursache dafür ist die Verteidigung, die Festungswälle um eine kompakte und dichte Bebauung gewährleisten soll. Sie war kompakt und vielfältig, denn je mehr Fläche eine Stadt einnahm, desto aufwändiger wurde ihre Verteidigung. Eine andere Möglichkeit von Kompaktheit und guter Verteidigung bot die Besiedlung einer Insel oder Halbinsel, etwa jener, auf der Milet erbaut wurde. Verteidigung blieb zur Zeit Napoleons ein Grund für Beschränkung des Flächenkonsums einer Stadt. In ihr fand man alles, was ihre Einwohner brauchten mit Ausnahme von Freiräumen für Erholung, Spiel und Sport. Das fand man außerhalb der Mauern, wo auch Bebauungen im Entstehen waren (Abb. 1). Das Wunder der Ausdehnungsbeschränkung einer Stadt zeigte sich deutlich nach Fallen von Stadtmauern. Die Stadt wurde zur Innenstadt. Dichte und Vielfalt änderten sich vorerst nicht. Sie blieb im Verständnis der Menschen die Stadt inmitten des Rundherum. Dann wurde sie Altstadt genannt, da ihr Umbauen, das Ersetzen von alter durch neue Bausubstanz nicht gewünscht war. Auch als sich die Stadt mehr und mehr ausdehnte: Als mehr und mehr des Gemeindegebietes einer Stadt besiedelt wurde, und sich städtisches Leben von Einwohnern nicht mehr in der ganzen Stadt abspielte, sondern in Teilen davon, blieb die Innen-/Altstadt die Stadt. Ihr Wirkungsbereich wurde allerdings erweitert. Neue Einrichtungen mit großem Flächenbedarf und neuen Nutzungen wurden in Ihrem Nahbereich angeordnet: Einrichtungen der Verwaltung und Justiz, Sportstätten für immer neue Aktivitäten im Innen- und Außenbereich wurden im Nahbereich der Innenstadt errichtet (2). Schließlich ergoss sich vorstädtische Baumasse in Flächenbezirke nahe am Rand der Gemeindegrenzen. Sie ist weder Stadt noch Land.
    Ein zweites raumordnendes und gestalterisch wirksames Merkmal ist die Beteiligung der Bürger am gesellschaftlichen politischen Leben: Wahlrecht und Mitwirken an Gesetzgebung und Verwaltung, wie sie schon in griechischen Stadtstaaten und Städten der römischen Republik gegeben waren. Zwar gab es noch keine Gleichstellung der Geschlechter oder aller Schichten der Bevölkerung am politischen Prozess, Gleichbegünstigung (Isonimia) aller Bürger, war um 500 v. Chr. das Motto des Reformprogramms des Sozialreformers Kleisthenes. Diese Form stadtstaatliche Souveränität entsprach dem damaligen Verständnis von Bürgertum, wie es auch in der ganzen Welt bis zur politischen Aufklärung der Fall war und heute noch ist. Zeugnis geben davon die großartigen Ruinen antiker Städte in Griechenland, ehemaligem Ionien und auf Sizilien. Wie vom Bürgertum in die Natur gesetzte Artefakte wirken sie noch heute. Diese meist nach hippodamischem Muster erbauten Städte strahlten zweitausend Jahre später in die Neue Welt aus.
    Ein weiteres raumordnendes und gestalterisch wirksames Merkmal ist Handel. Durch eine Kombination von Geschäft, Lager, Büro und Wohnbereich gebildete Häuser an der Straße oder einem Anger. So wurden die Zähringer Städte um südwestdeutschen und schweizerischen Raum erbaut, etwa Freiburg im Breisgau, Fribourg, Thun und Bern (Abb. 2) mit regionalem Handelsraum. So wurden aber auch an die 200 Städte der Hanse rund um die Ostsee und entlang der Nordsee von Norwegen bis Flandern gebaut: im Mittelalter eine republikanische vom Bürgertum getragene Macht in einem globalen Handelsraum. Ein Handelshaus an das benachbarte angebaut und eine etwas angerartige erweiterte oder gerade Straße oder Gracht davor als Umschlagplatz für damals weltweitem Handel. Wohnen ist integriert. Davon habe ich Danzig, Amsterdam und Lübeck gesehen (Abb. 3), zeitlich in dieser Reihenfolge. Verteilungsereignisse dieser Art führen zu einem geschlossenen Stadtbild. Wachstum findet innerhalb der Stadtbefestigung statt durch neue Straßen mit Häusern mit in gekoppelter Bebauung wie in Lübeck, wo in einer davon der junge Thomas Mann lebte. Es sind großartige Gesamtkunstwerke, die als Teile von Städten mit industriellem und postindustriellem Wachstum überlebten.

Die große Stadtbaukunst der griechischen (und römischen) Antike trat auf dem Weg mit Europa in die Neue Welt ein: das hippodamische System oder in der römischen Variation von Cardo und Decumanus. 1764 entstand New Orleans als französische Gründung im Delta des Mississippi (Abb. 4a). Nach dem Kauf des damals vom Golf bis nach Kanada reichendem Louisiana der Great Plains durch die USA entstand 1848 San Francisco als amerikanische Gründung auf einer Halbinsel zwischen der Bucht von San Francisco und dem Pazifik (Abb. 5a). Die hier gezeigten Pläne dieser Stadtgründungen sollen darauf hinweisen, welch großartige und vielfältige bauliche Entwicklung diese Städte vor dem Hintergrund ihrer ursprünglichen Ordnung von Straßen genommen hat (Abb. 5b). Im Gegensatz zu San Francisco (Abb. 5b) blieb die Baumasse im Layout der Gründung von New Orleans, dem Quartier Latin, im Mittel 3-geschoßig, wogegen sich das Geschäftszentrum mit Hochhäusern außerhalb davon entwickelte (Abb. 4b).
    In diesen Perioden zeigen Städte jahrhundertelang geringes Wachstum. Veränderung fand innerhalb der bestehenden Ordnung statt. Mit Industrialisierung und zunehmender Globalisierung tritt ein neues Charakteristikum auf, das Raum in zuvor nicht bekannter Weise gestaltet und ordnet: Wachstum, räumlich ungleich verteiltes Wirtschaftswachstum, Bevölkerungswachstum und Ausdehnung städtischen Raumes zusammen mit einer Verdünnung und Heterogenität der Dichte der Bevölkerungsverteilung zugunsten städtischer Besiedlung. Neue Industrien werden geschaffen – vor allem im Finanzsektor – und Wirtschaftsräume, deren Horizont der Perimeter des Globus ist. Alles ist anders und entzieht sich der Steuerung, geschweige denn der Kontrolle der Verwaltung. Siedlungsräume umfassen nun mehr als zehn Millionen Einwohner und erstrecken sich über dutzende, wenn nicht hunderte Gemeinden. Ein Teil davon sind Metropolen.

Wie die Stadt, die wir kannten, sind auch Metropolen ein Ereignis der Verteilung von Baumasse in einer kommunalen Infrastruktur. Was neu ist seit der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts, als London, New York City und Paris begannen, Metropole zu werden, ist unbebauter Grünraum und über bekannte Maße hinausgehende städtebauliche Maßnahmen bisher unbekannter Größe. Darüber mehr in Teil 2.

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(1) Shadrach Woods war amerikanischer Expatriot und Mitglied der Architekten Candilis- Josic- Woods, deren großer Erfolg der 1. Preis beim städtebaulichen Wettbewerb Toulouse-Le-Mirail war. Im Gegensatz zum Stadtplanungskonzept der CIAM sah es eine neuartige, sich stammartig verzweigende, fraktale Baumassenstruktur vor. Es wurde teilweise und in sehr geänderter Form für Bewohner mit geringem Einkommen und ohne Einkommensvielfalt realisiert. Woods hatte keine formale Architekturausbildung, sondern hatte Ingenieurwesen und Philosophie studiert, bevor er in Le Corbusiers Atelier als Bauleiter für die Unité d’Habitation in Marseille eintrat. Woods bahnbrechender Beitrag waren die Wettbewerbsarbeiten für das im Krieg zerstörte Zentrum Frankfurts und die FU Berlin, die erst nach seinem Tod 1973 als Fünfzigjähriger fertiggestellt wurde. Ich habe Woods beim Studentensymposium Synposion 1964 in Berlin und dann wieder 1967 an der Harvard persönlich kennengelernt. Im Rückblick blieben seine in diesen beiden Projekten dokumentierten Vorstellungen ohne entsprechenden Einfluss.

(2) Zudem entwickelten sich solche Aktivitäten immer spezifischer. Auf dem ehemaligen Fußballstadion des GAK an der Körösistraße in Graz gab es um das Fußballfeld eine Bahn für Laufbewerbe. Eine Veranstaltung des Fußballvereins lief bis in die beginnenden 60er Jahre wie folgt ab. Sie begann mit einem Feldhandballspiel zweier Nationalligavereine. Danach gab es einen Laufbewerb, gefolgt vom Fußballspiel, in dessen Pause ein 100m Rennen stattfand. Die Distanz zwischen Rasen und Tribünen sorgte auch für eine weniger parteiisch aufgeheizte Stimmung. Hooligans bin ich nie begegnet.

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