20/03/2020

Dissonanz und Harmonie

Emil Gruber zur Dauerausstellung Was ist Österreich? im Haus der Geschichte Österreich und zum Buch:

Was ist Österreich?
Menschen und Geschichten in 101 Objekten

Hrsg. Monika Sommer u.a.
296 Seiten, € 39,00
Haus der Geschichte Österreich

.

20/03/2020

Buchcover, Scan des Rezensenten

©: Emil Gruber
©: Emil Gruber
©: Emil Gruber

Geschichte wiederholt sich nicht,
aber sie wiederholt ihre Lehren.
(Richard Freiherr von Weizsäcker)

Es war ein simpler brauner Karton. Care stand auf der Verpackung. Innen Lebensmittel, die viele Menschen in Österreich schon lange nicht mehr zu Gesicht bekommen hatten. Schokolade, echter Kaffee, Fleischkonserven und Milchpulver zum Beispiel. Ohne massive Unterstützung der Zivilbevölkerung durch den ehemaligen „Feind“ USA hätte die Not im Nachkriegsösterreich deutlich länger gedauert.
Nur mehr ein sehr kleiner Teil der Zeitzeugen von damals lebt noch. Erinnert sich. Für meine Generation und die danach kommenden finden Einschränkung, Verknappung, Verunsicherung meistens außerhalb unserer Lebenswelten statt. Nun kippt ein winziges Nano-Partikel unsere Gewohnheitsmuster, schüttelt Zukunftsaussichten durch. Stürzt viele in existentielle Krisen, sei es die Virus-Erkrankung und/oder Isolation, seien es Jobverlust oder Auftragsentfall. C-19 gibt uns Zeit zum Nachdenken, wie schnell die Natur das dünne Mäntelchen der Sicherheit uns auszieht. 
Menschen in Krisenzeiten offenbaren schnell den individuellen Charakter: egoistisch, opportunistisch, altruistisch, alles ist möglich.
Die Dauerausstellung im Haus der Geschichte Österreich in Wien zeigt dies beispielhaft. Das Museum am Heldenplatz ist derzeit wie alle anderen geschlossen. Aber es gibt Online Ausstellungen – siehe Link hdgoe.at.
Und vor kurzem ist das Buch zur Dauerausstellung erschienen: Was ist Österreich? Menschen und Geschichten in 101 Objekten.
Objekt 39: Ein kleines Notizbuch mit einem einzigen Eintrag, die Adresse des Geliebten. Es gehörte Alma Rosé, bedeutende Geigerin der Zwischenkriegszeit, in Auschwitz-Birkenau Leiterin des Frauenorchesters, ebenda 1944 ermordet. Ihre Geige hat den Nationalsozialismus überdauert und kann heute noch in Konzerten gehört werden.
Unfassbar Objekt 61, das Modell eines Denkmals, das ehemalige NS-Funktionäre 1959 in Oberzeiring in Ruhe einweihen konnten. Nur den ursprünglichen Spruch am Sockel mussten die Verantwortlichen, der Bürgermeister und der Kameradschaftsbund-Obmann, verändern. Statt Und ihr habt doch gesiegt, dem Motto für Gedenkfeiern Im Nazi-Regime für ums Leben gekommene Kameraden der illegalen Phase, hieß es Wir starben für euch. Aus Tätern wurden Opfer.
Michael Schantl war bei der Unterzeichnung des Staatsvertrags 1955 im Belvedere Teil der Sicherheitsmannschaft. Nach Ende der offiziellen Feier und dem Empfang sammelte er die Sektkorken ein. Akribisch schnitzte er Köpfe der Unterzeichner daraus, baute das ganze Setting nach, inklusive Urkunde und Füllfederhalter. Bis zu Schantls Tod 1998 stand dieses Diorama, Objekt 57, in seinem Haus.
1978 wurde das erste Frauenhaus in Wien aufgesperrt. Initiatorin war – neben Justizminister Christian Broda und Gemeinderätin sowie späterer erster Frauenministerin Johanna Dohnal – Irmtraut Karlsson. Bis 1996 war sie eine der wichtigen Vorkämpferinnen zum Schutz von Frauen und Kindern vor häuslicher Gewalt. Objekt 83: Ein Album gefüllt mit Fotos, Zeitungsartikeln und persönlicher Kommentare erinnert an diese Zeit des Aufbruchs.
Traum und Wirklichkeit. Wien 1870-1930 veränderte 1985 nachhaltig den Blick auf die Architektur in Österreich. Hans Hollein brach das Bild des barocken Wiens hin zur Moderne auf. Er zeigte in der Schau die nachhaltigen Auswirkungen von Kunst und Geist der Jahrhundertwende auf das ganze 20. Jahrhundert. Ins Modell des Künstlerhauses wurden Elemente des Karl Marx-Hofes implementiert, Gustav Klimts allegorische Figur Medizin komplettierte das Ensemble. (Objekt 77)
Was ist Österreich? leuchtet viele, teilweise sehr unterhaltsame und private Momente aus dem Leben des Landes im 20. und frühen 21. Jahrhundert aus. Zusammen legen sie aber besonders Zeugnis ab, wie grausam und obrigkeitshörig und dann wieder solidarisch und kreativ Menschen in herausfordernden Situationen sich verhalten.
Objekt 101 zeigt 28 unterschiedlich große Kuhglocken. Als Österreich im Juli 2018 die Ratspräsidentschaft in der EU übernahm, lautete die Botschaft: Harmonie in Vielstimmigkeit.
Wann, wenn nicht jetzt.

Netzwerktreffen
16. + 17.11.2023
 
GAT+