17/01/2020

Motherless Brooklyn von Edward Norton, Regie und Drehbuch, 2019, USA, 145 Min.

Filmkritik von Wilhelm Hengstler

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17/01/2020
©: Wilhelm Hengstler

Architektur und Film Noir
In den Dreißigerjahren hat der Zeichner Hans Zille über Berlin einmal gesagt, dass man Menschen gleich gut mit einer Wohnung umbringen kann, wie mit einer Axt.
In der guten alten Zeit, als das Kinogehen noch geholfen hat, waren die Architekten vom Film fasziniert. Motherless Brooklyn ist nicht unbedingt ein Fixstarter in diesem Kinopalast, aber neben seinen unbestreitbaren Qualitäten ist er auch ein Architekturfilm. Abgesehen davon, dass in (und für) Filme immer auch gebaut wird, sind Architekten als Filmhelden häufig missverstandene, von ihrem Genie getriebene Gestalten (King Vidors The Fountainhead) oder gesellschaftspolitische Visionäre wie in Fritz Langs Metropolis.
Filme über Architektur sind oft auch Filme über Bauflächen und weil es dabei um viel Geld geht, geht es in ihnen auch um Verbrechen oder zumindest um Macht, ohne die keine Politik möglich ist. Auch Motherless Brooklyn, die zweite Regiearbeit von Edward Norton, spielt vor dem Hintergrund einer Gentrifizierung in New York. Norton hat sich die Rechte an der preisgekrönten Romanvorlage von Jonathan Lethem schon 1999 gesichert, siedelt die Geschichte aber nicht wie das Buch in der Gegenwart, sondern in den Fünfzigern an und macht daraus einen atmosphärischen Film Noir mit altmodischen Limousinen, Schlapphüten und breitschultrigen Anzügen.

Sein zweiter Name ist Tourette 
Edward Norton, ein Spezialist für extreme Rollen, war schon die „gute“ Seite des schizophrenen Helden in David Finchers Fight Club, der mit seinem anarchischen Alter Ego Tyler Durden (Brad Pitt) im Dauerclinch lag. Mit Lionel Essrog, dem Protagonisten In Motherless Brooklyn geht der Schauspieler-Regisseur womöglich noch weiter.  Lionel, einer von vier Jungen aus dem Brooklyner Waisenhaus, die der mafiöse Detektiv Frank Minna durchaus eigennützig als seine „Minna Men“ anlernt, leidet am Tourette-Syndrom. Zu den Zwangshandlungen Lionels gehört es, Wände zu streicheln, offene Schuhbänder einzufangen oder Fremde an der Schulter zu berühren. Dazu kommt das Wiederholen von Gesten und Wörtern und das unwillkürliche Hervorbringen obszöner oder aggressiver Ausdrücke: Verhaltensauffälligkeiten, die ihm auch Namen wie Freakshow, Motherless, Freakboy einbringen. Als er nach der Ermordung seiner Vaterfigur Frank Minna den Fall aufklären will, kann Lionel nicht als "tougher privat eye" mit zynischen Sprüchen punkten. Seine Suche nach der Wahrheit lässt sich nicht trennen vom Kampf gegen sein Tourette-Syndrom. Nur mit ständiger Selbstkontrolle, deren Sitz ironischerweise genau dort ist, wo schon „Tourette“ wütet, kann er seine Spuren verfolgen. Jede Interaktion wird dabei zur Herausforderung, birgt die Angst und die Gefahr zu entgleisen. Lionel Essrog mit seinem Tourette-Syndrom wird zu einer verzweifelten und manchmal komischen Metapher für Entfremdung, wobei Norton dieses Handicap nicht wie Dustin Hoffman in Rain Man als humanistisches Lehrstück spielt, sondern als „matter of fact“.

Chinatown und Motherless Brooklyn
Polanskis Chinatown und Motherless Brooklyn haben die gleiche DNA, in beiden geht es um Kommunalpolitik, Grundstücksspekulationen und um übermächtige Vaterfiguren. Seine Nachforschungen führen Lionel zu Moses Randolph, in dem unschwer der berühmte Stadtplaner Robert Moses (New York 1888 -1981) zu erkennen ist. Unter dem Stichwort „Sanierung“ (Gentrifizierung) werden „schwarze“ Viertel abgerissen um Platz für „weiße“ Bauprojekte zu schaffen. Und wenn jene Tunnel, die in „weiße“ Wohngebiete oder Erholungsgebiete führen, so niedrig gebaut werden, dass sie von öffentlichen Bussen, auf die die Schwarzen angewiesen sind, nicht passiert werden können, ist das nebenbei inoffizielle Rassenpolitik. Aber weil Moses Randolph ähnlich wie Noah Cross in Chinatown auch eine verborgene Tochter hat – ironischerweise mit einer schwarzen Mutter – führt das zu Erpressung und Mord. Alec Baldwin spielt diesen Städteplaner mit furchterregender Wucht, aber noch beklemmender ist seine (gesellschaftliche) Charaktermaske: Machtpolitiker ohne Mandat im Bereich zwischen öffentlich-rechtlicher Körperschaft und privater Wirtschaft.

Betörend altmodisch
In allen Nebenrollen ist Motherless Brroklyn hervorragend besetzt: Klassisch: Bruce Willis als Frank Minna und Willem Defoe als genialer, zerquälter Bruder des Stadtplaners. Gugu Mbatha-Rwa gibt ansehnlich die verleugnete, schwarze Tochter und Michael K. Williams bringt als Jazztrompeter die Atmosphäre des Films visuell wunderbar auf den Punkt. Edward Nortons Entscheidung für die Fünfzigerjahre macht sich bezahlt. Der von Daniel Pemperton komponierte und von Wynton Marsalis orchestrierte Filmscore beschwört die legendären Jazzklubs dieser Jahre, bei geschlossenen Augen gefühlt im Kino wie in einem Konzert von Miles Davis. Leider verleugnet Regisseur Norton am Ende den existenziellen Zynismus, der dem Film Noir eingeschrieben ist. Das Happy End Lionels mit der schönen Gugu Mbatha-Rwa bekommt am Ende den Charakter einer Emanzipationsgeschichte a la Vier aus dem Waisenhaus. Motherless Brooklyn mag nicht an Polanskis düsteres Meisterwerk Chinatown heranreichen, Norton will zu viel mit seinem Film. Aber dafür verzichtet er auf die derzeit beliebten, schrillen Extreme und ist betörend altmodisch.

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