15/05/2020

Filmpalast – 15

KINO & CORONA

Kritik von Wilhelm Hengstler

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15/05/2020

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©: DIAGONALE

Lautes Klagen über mangelnde Förderung der Kunst in Zeiten von Corona, Wehklagen über das Ausfallen des Österreichischen Filmfestivals Diagonale 2020, diffuse Vorschläge, wie dem abzuhelfen wäre. Auch der Kinobetrieb musste ausgesetzt werden, wozu man sagen muss, dass er schon vor dem Lockdown vor sich hin schwächelte.
Der Untertitel von Sigfried Krakauers Theory of Film lautet The Redemption of Physical Reality, auf Deutsch Die Errettung der physischen Wirklichkeit. Der vor den Nazis in die USA geflohene Soziologe meint damit, dass das eigentliche Thema des Mediums Film die Erscheinungen des alltäglichen Lebens seien: das Zittern von Blättern am Baum, eine vom Wind über die Straße getriebene Zeitungsseite, das Flirren des Lichtes auf dem Wasser. Dramenverfilmungen, philosophische Erörterungen und dergleichen sind zwar möglich, gehören aber nicht zum Wesen der Filmkunst. Krakauers einflussreiche Formulierung wirkt noch nach in Godards Diktum „Film heißt, dem Leben 24mal/Sekunde zusehen“ oder auch in der unbedingten Wertschätzung des Originaltons durch Filmexperten. In Zeiten der Digitalisierung, wo das Visuelle die reale Welt unter sich zu begraben droht, ist die spürbar religiöse Assoziation in The Redemption of Physical Reality vielleicht interessanter, als die Synchronisationsfrage.
Zu diesem Ansatz gehören zum Beispiel die kryptoreligiösen Rituale beim Drehen – „Ton?“ … „Ton ab! „ Kamera?“ …Kamera läuft!“. Und dann, das für die Schauspieler bestimmte „Und bitte!“. Daneben finden sich auch kleine, quasi religiöse Tabus. Ebenso wie man nach der Kommunion die Hostie beziehungsweise „den Leib des Herrn“ nicht zerbeißen darf, gilt es als Sakrileg, das Auge vom Sucher zu nehmen, während der Film durch die Kamera läuft. Die Filmprojektion ist im Prinzip nur ein umgekehrter Aufnahmevorgang, der mit der Digitalisierung ebenfalls sein rituelles Gepränge verloren hat. An die Stelle der 12 kg schweren Schachteln mit den Filmrollen, ein Pendant für die Sünden (oder das Kreuz), an denen man schwer schleppt, sind Datenträger (DCPs) getreten, die in einer Rocktasche Platz finden. Den digital verkleinerten Aufnahmegeräten entspricht eine Vielzahl von Abspielmöglichkeiten wie Streamen (Fernseher, Laptops, Tablets, Handys usw.) oder den beinahe antiken VHS-Rekordern und Laufwerken für DVDs. Die umgekehrte Redemption of Physical Reality, das Abspielen von Filmen, passiert längst irgendwie und nebenbei, wenn Gott das Monopol auf das Religiöse hatte, ist er mittlerweile auf ein Smiley reduziert. 
Die durch den Lockdown bedingte Schließung der Kinos ist nur das vorläufig radikale Ende eines schleichenden Vorganges. Die Ersatzfestivals und alternativen Auftritte im Netz vermehrten allenfalls den Bilderschwall auf den Geräten. Die Chance ist nicht ergriffen worden, digital eine cineastische Handschrift oder redaktionelle Konturen zu entwickeln. Der Besuch von Festivals zeigt Ähnlichkeiten mit religiöser Massenhysterie, Leute, die das Jahr über kaum ins Kino gehen, stürmen plötzlich Filme, die sie nach Festivalschluss wieder ignorieren. Der Thrill des Events tritt an Stelle des ästhetischen Verlangens oder überlagert es zumindest. Freiluftaufführungen sind zweifellos atmosphärische Ventile, aber hierzulande wegen ihrer Abhängigkeit vom Wetter keine praktikable Alternative für Festivals. Sie können den Kinobesuch ebenso wenig ersetzen, wie Freiluftmessen mit ihren Tausenden von Gläubigen den Kirchgang.
Es bestehen weitere Ähnlichkeiten zwischen religiösen Bräuchen und dem Ansehen von Filmen. Die klassischen, großen Kinos entsprechen den Kathedralen und oft war der sonntägliche Kinobesuch Belohnung für den Besuch der Messe. Die kleinen Kinosäle (Schuhschachteln) gleichen Andachtsräumen, in die sich die eifernden Filmfreaks schleichen. Aber selbst diese Schuhschachteln für cineastische Kostbarkeiten boten schon vor Corona soviel Platz, dass der Zweimeterabstand und die Zwanzigquadratmeterregel leicht befolgt werden konnten.
Um in der religiösen Terminologie zu bleiben: Filmfreaks sind so etwas wie die Sektenmitglieder in den Katakomben, von denen dann… na, Sie wissen schon. Das Heil für`s Kino liegt weniger in noch mehr Filmen, noch mehr Gestreamten, als in einem radikalen Umgang mit Überproduktion und Überangebot an Filmen. Es ist nicht so, dass keine hervorragenden Filme mehr gemacht würden; es fällt nur immer schwerer, sie aus dem Meer von mittelmäßigen herauszuheben und ans Publikum zu bringen.

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