08/11/2019

Ganz oben – Ganz unten

Emil Gruber zur Ausstellung Raphaela Vogel – Bellend bin ich aufgewacht

Kunsthaus Bregenz
bis 6. Jänner 2020
 
Pudeltag
24. November 2019

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08/11/2019

Untergeschoß: Screenshot aus Helke Sanders Kurzfilm „N1 – Aus Berichten der Wach- und Patrouillendienste“

©: Emil Gruber

3. Geschoß: Raphaela Vogel, "Rollo", 2019 , neun Miniaturgebäude mit Soundskulptur und Video

©: Emil Gruber

Raphaela Vogel, "Rollo", 2019

©: Emil Gruber

Raphaela Vogel, "Rollo", 2019

©: Emil Gruber

2. Geschoß: Raphaela Vogel, Video "Son of a Witch", 2018 – Eingang im Vordergrund: „Berlinisches Loch“

©: Emil Gruber

1.Geschoß: Raphaela Vogel, Video "Tränenmeer“, 2019

©: Emil Gruber

1. Geschoß: Raphaela Vogel, "Schweinehund" (in temporärer Untersuchung links) und "Hijab Hund"

©: Emil Gruber

Erdgeschoß: Raphaela Vogel, "In festen Händen“, 2016

©: Emil Gruber

Ganz unten beginnt diesmal die Reise durch die Ausstellungen des Bregenzer Kunsthauses. Dort wo die Schließfächer und Sanitäranlagen sich befinden, ist aktuell ein kleines Kino installiert. In N1 – Aus Berichten der Wach- und Patrouillendienste erklimmt eine junge Frau gemeinsam mit ihren beiden Kleinkindern einen Baukran in Hamburg. Von der Spitze des Auslegers wirft sie Flugblätter in die Tiefe. Die verzweifelte Mutter fordert eine leistbare Mietwohnung bis zum Abend. Andernfalls spränge sie. Helke Sanders schwindelerregender Kurzfilm erhielt 1985 einen Goldenen Bären bei der Berlinale und das Filmband in Silber beim Deutschen Filmpreis. Die aufsehenerregende Aktion der alleinerziehenden Mutter beruht auf Tatsachen. Ähnlichkeiten zu heutigen Verhältnissen können nicht ausgeschlossen werden.

Ganz oben, im letzten Geschoß des Kunsthauses befindet sich der Besucher wieder in einer Baustelle. Ein durchwanderbares Sammelsurium von Miniaturnachbauten bilden ein dystopisches Best-of urbaner Wahrzeichen. Die Türmchen der Tower-Bridge sind eingeknickt, die Stahlseile abgesplittert, der Straßenbelag aufgebrochen, das Bein einer Schaufensterpuppe versperrt die Durchfahrt. Auf der Kölner Eisenbahnbrücke kippt ein ICE aus dem Gleisbett. Am Himmel darüber taumelt ein havarierter Zeppelin. Im Wiener Riesenrad hat sich ein monströser Schmetterling niedergelassen. Mothra, der Godzilla-Widersacher aus den japanischen Stadtdekonstruktionsfilmen der 1960er, ist nun wohl auch in Europa gelandet. Hinter moosbewachsenem Arc de Triomphe und glanzloser Berliner Siegessäule dreht sich in einem aus den Fugen geratenen Raum eine Frau wie besessen auf einer Kranleiter. Die Frau heißt Raphaela Vogel und füllt mit ihren üppigen (Video)-(Selbst-)-Inszenierungen das KUB im letzten Quartal des Jahres. Vogels Gesang ist ein wesentlicher Teil jeder Installation. What have I got, nobody can take away? heißt es im Original des Hair Musical Songs Ain’t got no, I got life, den Vogel in einer deutschen Version variiert. Rollo nennt Vogel ihren Schauraum mit Objects trouvés eines aufgelassenen Freizeitparks. Rollo heißt auch der Königspudel der Künstlerin, der am Ende des Videos das bizarre Karussell bellend stoppt.

Vogel arbeitet plakativ und setzt auf Rückblick in der Popkultur. Das 21. Jahrhundert kommt sowieso nicht wirklich voran. Das Pendeln zwischen Eitelkeit und zerbrechlichem Ego ist andererseits wieder maßstabsgerechtes Zeitgefühl. Wer einen Vertigo schätzt, ist in der richtigen Kunstabteilung.

Postkoital müde (Eigenbeschreibung) findet sich daher folgerichtig Vogel in der Etage darunter. Wieder ein Video mit der Künstlerin, wieder ist das Bild durch ein extremes Weitwinkelobjektiv verzerrt und kaleidoskopartig verfremdet. Auf einem kreisrunden Bett spielen Visionen miteinander Fangen. Vogel ent- und verortet sich mehrfach, am Ende wird sie von einer Drohne verfolgt, deren Schatten sich spinnenartig am Rücken der Gejagten abzeichnet. Ein Zeltgerüst ohne Dach und Wände mit einem von Drachen verzierten Tor als Eingang, das auch als Requisit eines Bruce Lee Films der 1970er (oder eines von Tarantino der Jetzt-Zeit) durchgehen könnte, ist die schutzlose Leere für Son of a witch die Fieberträume der Künstlerin. Vogel will Werk selbst sein. Starattitüde, Neurosen und Ängste inklusive. Unterbewusstsein liegt unter der Hirnschale, Kitsch im Augapfel jedes Betrachters. Dazwischen turnt ungesichert die Fantasie.

Eine nackte Frau dem Betrachter zugewandt, darüber ein aufgebrochener Spinnenkörper. Morgenstern schält – nach einem neuerlichen Abstieg im KUB – das Körperliche endgültig aus, Metamorphose ist irgendwo immer. Wie auch in den anderen Räumen dominieren arachnoide Strukturen. Mehr als Spielgefährte denn Angstobjekt wirkt ein buntes Spinnenfragment, das in Vogels Kabinett des entspannten Grauens großformatige bemalte Lederhäute an den Wänden umrahmen. Der Hijab Hund trifft auf den Schweinehund oder sublim Orient auf Okzident. Und wieder auf einem fächerförmig auseinander gehenden Gestell von Metallrohren ein Video: Tränenmeer. Ich hab‘ keine Angst singt die Künstlerin, während sie einsam auf einer wellenumtosten Klippe steht. Wie ein riesiger Mahlstrom lauern Wassermassen darauf, Vogel zu verschlingen. Doch selbst Land und Meer kommen der Künstlerin nicht endgültig nahe, sondern halten zarten Respektabstand. Ein weiblicher Moses, der seinen Anhang verloren hat und den Elementen ausgeliefert ist; mit dem Lied Milvas auf den Lippen und statt Geboten ein kleines Bandeon in der Hand.

Am Ende der tiefenpsychologischen Reise durch die gestapelten Labyrinthe hängen zwei mit Schlangen kämpfende Metalllöwen von der Decke. An den Schnauzen der Katzen sind Rundumlautsprecher befestigt, Grundig Audiorama Boxen aus den 1970ern. Raphaela Vogel singt wieder einen Milva-Song, stark verfremdet und obskur, verformt die miteinander im Erdgeschoß des KUBs ringenden Bestien zu einer fragil haltbar gemachten Schicksalsgemeinschaft. Hurra wir leben noch war ursprünglich die Titelmelodie zu Die wilden Fünfziger. Die Verfilmung eines Romans von Johannes Mario Simmel unter der Regie von Peter Zadek 1983 handelt von Erfolg und Scheitern, vom Steigen und wieder Fallen in der Wirtschaftswunderzeit zwischen Ost und West. Hurra! Wir leben noch. Nach all dem Dunkel sehen wir wieder das Licht, empfängt und entlässt die Besucher wieder.

Ein Postskriptum
Wer Art-gerechte Haltung für seinen Hund einmal wörtlich nehmen möchte, hat am 24. November 2019 eine einmalige Gelegenheit, ihm Kunststücke mehr näher als beizubringen. PudelbesitzerInnen können bei freiem Eintritt die Ausstellung besuchen, gemeinsam mit dem Vierbeiner! Raphaela Vogel wird mit ihrem Königspudel Rollo anwesend sein. Es gibt Kunstvermittlung auf der jeweiligen Augenhöhe sozusagen. Um ausreichendes Gassi-Gehen vorab wird gebeten.

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