23/09/2022

Godard, wer?

Wir haben Wilhelm Hengstler gebeten über Jean-Luc Godard nachzudenken und sind beglückt, dass er nicht nur über die Villa Malaparte und Brigittte Bardot schreibt. Demnächst wird er auch wieder in unregelmäßigen Abständen unter dem Titel Filmpalast auf GAT seine Filmkritiken veröffentlichen.

23/09/2022

Ein seltener Blick aus dem Fenster: Ende der Dreißigerjahre unterstützte der Architekt Adalberto Libera den Schriftsteller Curzio Malaparte bei dem Entwurf der Villa Malarparte auf Capri. Ein paar Jahre später wurde diese durch den Film "Die Verachtung" von Jean-Luc Godard zur Ikone. (screenshot 20220923: https://www.capri.com/en/e/villa-malaparte-legend-and-cinema)

Viele Millennials und aus der „Generation Z“ haben keinen seiner Filme gesehen, kennen nicht einmal seinen Namen. Der Kameramann Raoul Coutard meint, dass er mit vielen brillanten Regisseuren gearbeitet habe, aber dieser sei das einzige Genie gewesen. Der einundneunzigjährige Filmemacher Jean-Luc Godard ist kürzlich in der Schweiz freiwillig aus dem Leben geschieden.

Die Zeit mit Godard
„Seine“ 60er-Jahre standen für eine umfassende Revolution, in der das Politische nur ein Teil war. Die Jugend erfand sich neu und spielte ihre Massenkultur gegen die Hochkultur der Väter aus. Der revolutionäre Impetus war in keinem Land vehementer als in Frankreich, wo er im Paris des Mai 68 gipfelte. Film wurde zum Medium der Kritik am Faschismus, Kapitalismus und der bürgerlichen Gesellschaft; über die sogenannte „Siebente Kunst“ schrieben Philosophen wie Sartre, Barthes oder Deleuze.  
Kinos, vor allem die Cinemathek von Henri Langlois fungierten als revolutionäre Schlupflöcher, das Kampfblatt hieß „Cahiers de Cinema“ und die kämpfende Truppe nannte sich „Nouvelle Vague“ – neben dem Surrealismus für viele die wichtigste und folgenreichste Bewegung.

Jean-Luc Godard war der radikalste unter den Regisseuren der „Nouvelle Vague“, zu denen u.a. Truffaut, Chabrol, Rohmer, Rivette oder Resnais zählten. Sie begannen als Amateure und erlernten ihr Handwerk statt auf einer Hochschule im Kino, wo sie vor allem die während des Kriegs verbotenen US-Filme – Western, Thriller und Gangsterstreifen-nachholten.
Der Einfluss von Godards Erstling „Außer Atem“ (1959), der Jean Paul Belmondo zum Star machte, kann gar nicht überschätzt werden. Godard filmte mit dem vorhandenen Licht, verwendete hochempfindlichen, für Fotoreporter entwickelten Film und ließ seinen Kameramann Coutard vieles aus der Hand drehen oder setzte ihn statt auf einen Dolly in eine Schubkarre. Vor allem die sogenannten Jump Cuts revolutionierten die Sehgewohnheiten des Publikums. Keine Frage, Godards Freiheit als Amateur und die knappen Budgets beförderten diesen Aufstand gegen das Kino der Väter. Aber Revolutionäre werden, wie das so ist, zu Klassikern und ihre radikalen Erfindungen dienen alsbald dem Verkauf von Autos, Kosmetika oder Katzenfutter. In atemberaubendem Tempo folgten Filme, die noch überschattet von der Nachkriegszeit gleichzeitig Pop Art, Rock`n Roll, Konsumkultur und Revolutionschic widerspiegelten: „Der kleine Soldat“ (1960), „Eine Frau ist eine Frau“ (1961), „Die Geschichte der Nana S.“ (1962), „Die Verachtung“ (1963), „Die Außenseiterbande“ (1964), „Eine verheiratete Frau“ (1964), „Alphaville“ (1965), „11 Uhr nachts“ (1965), „Masculin – Feminin“ (1965/66), „Made in USA“ (1966), „Zwei oder drei Dinge, die ich von ihr weiß“ (1967) und „Weekend“ (1967) begründeten hauptsächlich seinen Ruhm. Die spielerischen, manchmal tödlichen Selbstinszenierungen seiner Protagonisten waren banal. Aber gerade die kleinen Abwandlungen machten den Terror des Selbstverständlichen sichtbar. Der ehemalige Student der Ethnologie betrieb Ethnomethodologie, Soziologie als Happening.

Inwieweit der gigantische, nicht wiederholbare Erfolg von „Außer Atem“ ihn belastete, kann nur vermutet werden. Er ließ sich jedenfalls nie von einem Erfolg einvernehmen und pfiff auf Erfolg versprechende Rezepte. Film diente ihm zur Erkenntnis und auf dem Weg dorthin blieb er insofern Realist, als er Zufälle und Hindernisse improvisierend in seine Arbeit integrierte. Auf geheimnisvolle Weise sind seine Bilder, auch die der späteren Filme „wirklicher“, scheinen bei aller Zufälligkeit endgültiger als die anderer Regisseure.

Häufig bediente sich Godard aus Büchern der „serie noir“, einer französischen Reihe, die amerikanische Pulp Fiction von Autoren wie Hammet oder Chandler herausgab. Er überschrieb diese Vorlagen allerdings bis zur Unkenntlichkeit. Sein lässiger Umgang mit Drehbüchern – meist nur einige Notizen in einem Heft – ist legendär und hat einige Schauspieler in die Flucht geschlagen. An seinen meisterhaften, oft romantischen Off-Texten ist abzulesen, dass er mehr Schriftsteller als Filmhandwerker war. Bis heute, trotz der Verkleinerung aller Aufzeichnungsgeräte, ist niemand imstande, derart leichthändig Filme zu „schreiben“, wie es Godard mit einer 42 Kilo schweren Mitchell-Kamera tat. Hanns Zischler spielte in Godard’s „Deutschland Neu(n) Null“  (1991) – eine Reverenz auf Rosselinis Klassiker „Deutschland im Jahre Null“ – und beschreibt dessen Arbeitsweise als „vertikal“. Godard reiht nicht Einstellung an Einstellung, um einen festgelegten Text „ins Bild zu setzen“ und dann Musik hinzuzufügen. Er „schreibt“ vielmehr seinen Film spontan, mit den Aktionen der Schauspieler, ihren Worten, der Musik, den Bildern – alles gleichzeitig und in seinem Kopf. Es ist die Frage, ob Godard die Drehorte für seine Themen aussuchte, oder ob nicht die Drehorte, auf die er seine Kamera instinktiv fast immer am einzig richtigen Ort positionierte, seine Themen bestimmten. Die halb eingerichteten Appartements, die pharaonenhafte, jede Bauordnung verhöhnende Capri-Villa des Produzenten Prokosch (Jack Palance) in „Die Verachtung“, die unendlich triste Vorstadt in „Die Außenseiterbande“ und vor allem das ultramoderne Paris von „Alphaville“, in dem Godard die Strukturen und Zeichen einer totalitären Zukunft aufspürte, zeigen ihn als Chronisten einer urbanen Zivilisation mit fragwürdiger Menschlichkeit.

Die Zeit nach Godard
Der Kameramann Coutard erzählt sarkastisch, dass Godard während der Dreharbeiten zu „Weekend“ (1967)  den Marxismus-Leninismus für sich entdeckt habe. Der Star der Nouvelle Vague, der das Kino neu definiert hatte, klinkte sich aus und begann zusammen mit Jean-Pierre Gorin in der Gruppe „Dziga Wertow“ nicht „politische Filme“, sondern Filme „politisch zu machen“. Aber Unvereinnehmbarkeit hat ihren Preis. Auch mit „Alles in Butter“ mit Jane Fonda und Yves Montand (1972) und allen Filmen, die folgen sollten, würde er seinen Platz auf der Bühne nicht mehr einnehmen.  
Die während der Siebzigerjahre neu entwickelte Videotechnik entsprach Godards Unabhängigkeitsdrang. Er etablierte erst in Grenoble, dann in Rolle ein eigenes Studio und produzierte gemeinsam mit seiner Frau Anne-Marie Miéville die alternativ konzipierten Serien „Six fois deux“ (1976) und „France tour détour deux enfants“ (1979). Sie wurden übrigens im Rahmen einer eher unbemerkten Personale vom Forum Stadtpark im steirischen herbst 1979 gezeigt, um anschließend umjubelt in München zu laufen.

Rückkehr
Skeptischer geworden, kehrte Godard in den Achtzigern ins Kino der Stars wie Isabelle Huppert, Alain Delon, Nathalie Baye oder Gérard Depardieu zurück. Nicht nur in „Rette sich wer kann (das Leben)“ (1980) ging es um die Entsprechung von Arbeit und Prostitution. Godard war weiterhin fokussiert auf Politik und Geld, wobei letzteres für ihn Gewalt, aber auch Freiheit bedeutete. „Wenn ich mich mit dem Kameramann Raoul Coutard unterhalten will, muss ich einen Film machen“, sagte er, „und dazu brauche ich Geld.“ Deshalb betrieb er unzählige Projekte und drehte Filme oft nebeneinander. „Passion“ 1982;  „Vorname Carmen“ 1983; „Maria und Joseph“ 1985; „Detektive“ 1985; „Schütze deine Rechte“ 1987; „Nouvelle Vague“ 1987; „Deutschland Neu(n) Null“ 1991;  „Weh mir“ (1993) trafen die herrschende Stimmung zwar nicht mehr intuitiv wie früher, viele verstörende Sequenzen bleiben aber unvergessen.

Der Idiot des Kinos
Der sicher umstrittenste, vielleicht bedeutendste Filmemacher war möglicherweise auch der unerträglichste. Mit seinem intensiven Blick hinter dicken Brillen, den Geheimratsecken, die sich auf zwei Haarbüschel reduziert hatten und der unvermeidlichen Zigarre glich Godard immer mehr einem traurigen Clown, – einem „Idioten“, wie er sich selbst in „Vorname Carmen“ bezeichnete. Aber bekanntlich sind gerade Clowns nicht immer die angenehmsten Zeitgenossen. Godard behauptete, seine Familie sei faschistisch. Tatsächlich entstammte er einer alten, reichen Schweizer Sippe mit Bankiers, Theologen und Nobelpreisträgern in ihren Reihen. Sein Großvater Monod war befreundet mit Paul Valery und hatte mit diesem Rilke in seinem Schlösschen Anthy empfangen.  
Über das Verhältnis zwischen Godards Werk und seiner Sozialisation als Scheidungskind bzw. gefährdeter Jugendlicher ist wenig geschrieben worden. Von einem frühen Job in einem Kraftwerk entwendete er Schreibmaschinen, um sie zu verscherbeln. In Paris war er ein gefürchteter Gast, wenn er da gewesen war fehlte hinterher immer etwas. Einmal bediente sich Godard aus der Kasse der „Cahiers de Cinema“ und musste deswegen für einige Zeit Paris verlassen. Die Absenz von Empathie, eine anarchische Gleichgültigkeit gegenüber bürgerlichen Normen, der ausgeprägte Unabhängigkeitswille, der unbekümmerte Zugriff auf Fremdmaterial und wohl auch die vor allem im späten essayistischen Teil seines Werkes gezeigte immense Bildung, lassen sich vielleicht durch seine Herkunft erhellen. Nachdem er für „Weekend“ alle in Frankreich verfügbaren Dollyschienen verlangte, teilte er die längste Kamerafahrt der Welt wie zum Hohn auf den Produzenten in zwei Hälften. Und in „Die Verachtung“ lässt er den teuren Superstar Brigitte Bardot zum Missvergnügen von Produzent Carlo Ponti am Ende wie eine tote Gans schlapp aus einem Sportwagen hängen.

Rückzug
„Außer Atem“ oder „Die Verachtung“ verfügten noch über Handlungen im klassischen Sinn. Ab Mitte der 1960er, in „Weekend“ oder „Die Chinesin“, löste Godard diese Strukturen immer mehr auf und in den Achtzigerjahren ging er noch einen Schritt weiter in Richtung Fragmentierung. Das Alterswerk des Einsiedlers Godard entwickelte sich diesbezüglich noch extremer und wurde dementsprechend widersprüchlich aufgenommen. Godards Anhänger blieben zwar noch eingeschüchtert vor den Bildschirmen sitzen, doch Arbeiten wie „JLG/JLG – Godard über Godard“ (1995); Geschichte des Kinos (1998); „Auf die Liebe“ (2001) „Film Socialisme“ (2010); „Adieu au langage“ (2014); „Bildbuch“ (2018) liefen praktisch unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Godard sprach auch nicht mehr von „Film“, sondern nur noch von Bildern und Tönen. Tatsächlich hatte er schon 1967 „Weekend“ mit einem Insert „Fin de Cinema“ beendet. Godard setzte sich nun konsequent mit der Beziehung zwischen Bildern und Tönen auseinander, wies auf den subjektiven, unsicheren Charakter der Wahrnehmung hin und stellte diese auch infrage. Vielleicht suchte er nach einer bilderbasierten Universalschrift, mit der sich Politik, Geschichte und Leben, einfach alles, abbilden ließ. Um diese komplexe Textur „lesen“ zu können, hätte man allerdings ein Universalist wie die Sphinx Godard sein müssen und dass er sich gern selber widersprach, machte die Sache nicht einfacher.  
Godards Entwicklung gleicht der vieler großer Männer – Genies, wenn man so will, – die im Alter ihre eigene Kosmologien schaffen. Die geraten ihnen dann dermaßen komplex und unübersichtlich, dass am Ende „White Noise“, das große Rauschen droht. Als Nicolas Godin von der französischen Band „Air“ zu einem Godard-Zitat über das Fernsehen sagte: „Sein Beruf scheint ja zu sein, schlau klingende Zitate abzusondern! Ich glaube, er macht nur Filme, um seine klugen Sprüche irgendwo unterzubringen.“ erntete der Musiker nicht nur Ablehnung.

Die Zeit ohne Godard
Der „ewige Revolutionär des Kinos“ bleibt eine aktuelle Herausforderung, auch wenn es anstrengend sein mag, ihm zu folgen. Quentin Tarantino nannte seine Produktionsfirma Jahrzehnte später „Band A Part“ nach Godards 1964 gedrehtem Film. Und was ist Tarantinos „Pulp Fiction“ anderes als eine Variation von Godards Aphorismus, nach der jeder Film einen Anfang, einen Mittelteil und ein Ende hat, aber nicht notwendig in dieser Reihenfolge?

Godard hinterließ ein mit calvinistischem Fleiß aufgetürmtes Werk aus 47 Spielfilmen, zählt man alle anderen Arbeiten mit, werden es insgesamt über 150 Filme. 2007 Europäischer Filmpreis für das Lebenswerk, 2010 Ehrenoscar für das Lebenswerk, 2018 Palme d’Or Spécial (erstmals verliehen) für „Bildbuch“. Die Zeit ohne Godard bringt einen ungeheuer (unheimlich) diversifizierten Bild- und Filmbetrieb, der in Cineplexschuppen, Programmkinos, Spezialfestivals und Galerien jedes vorstellbare Einzelinteresse bedient. Der revolutionäre Impetus, die philosophische Neugier des Mediums Film, auch wenn sie noch existiert, treten hinter der Sättigung der Nachfrage, der Befriedigung von Märkten zurück.

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