14/10/2016

Kunst-Lawine steirischer herbst (02)

Kommentar von Wilhelm Hengstler zu zwei beispielhaften Abenden:
State von Ingri Fiksdal / Jonas Corell Petersen im Dom im Berg und Pink Eye von Elisabeth Bakambamba Tambwe
 im Orpheum Extra.

14/10/2016

State' von Ingri Fiksdal / Jonas Corell Petersen.

©: Anders Linden

Pink Eye'
 von Elisabeth Bakambamba Tambwe
.

©: David Visnjic

Zwei beispielhafte Abende

Rituale sind normierte, immergleiche Handlungsabläufe, adressiert an und eingebettet in eine Gemeinschaft. Ohne Adressat wird das Ritual autistisch oder zum Import aus einem fernen, exotischen Kulturkreis. Mit State im Dom im Berg versucht die norwegische Choregraphin Ingri Fiksdal mit Jonas Corell Petersen als Dramaturg die Wechselwirkung von State und Ritual im Tanz zu erkunden. Zu Beginn (und 1 x zwischendurch) wird dem im Kreis sitzenden Publikum ein Fingerhut Schnaps als Agape, als verbindende Gabe gereicht. Kein schlechter Anfang für eine getanzte Staatsphilosophie. Die 3 Tänzerinnen und 2 Tänzer erzielen unter schimmernden Hüllen noch einen schönen skulpturalen Effekt, aber das war es dann auch schon. Alsbald verschwand der ehrgeizige Tanz-Diskurs hinter dichten Nebelschwaden und wurde erbarmungslos bis über die Schmerzgrenze überdröhnt von der Musik Lasse Marhaugs (an den Geräten: Heida Mobeck und Anja Lauvdal). Dabei waren die Vorbereitungen zu dem ambitionierten Projekt beeindruckend. Die anthropologischen Studien und Studienreisen, die Ingri Fiskal und ihr Dramaturg unternahmen, hätte ich auch gern gemacht und ihre Theater- und Tanzreferenzen – Odin Teatret, Grotowski, Martha Graham, Mary Wigman – zählen zum besten. Nur führte der Niederschlag dieser Erfahrungen – hauptsächlich mitreißende aber monotone Kreistänze – nirgendwohin, knüpften die Kostüme über ihre synthetische Archaik hinaus kaum an nachvollziehbare Inhalte an. Der Abend bot sehr gekonnte Selbstbezüglichkeit, auch tadellose Warenqualität, blieb aber hinter den eigenen Ansprüchen zurück.
Dafür war State beispielhaft für einen Trend im (Tanz)Theater-herbst, der sich weitgehend von abgeschlossenen Stücktexten verabschiedet. Diskurse werden auf einem eher sprachlosen Feld geführt, die Akteure legitimieren sich, flankiert von komplizierten Eigenerklärungen, durch selbst induzierte Überwältigungsextasen, es geht um den Prozesscharakter. Das liegt auch international im Trend. Beim Berliner Theatertreffen 2016 z.B., für das die zehn interessantesten Inszenierungen ausgewählt werden, war 2016 erstmals keine Arbeit dabei, der ein Dramentext zu Grunde lag. Kann man von einem Rückzug der Sprache reden? Enervierend ist jedenfalls der häufige, aber immer nur metaphorische Bezug auf politisch korrekte Positionen. Etwas an sich Wünschenswertes wird – unabhängig von der Oberflächenradikalität des Dargebotenen – zum Konsenszwang.

Eine Gegenbewegung bot Elisabeth Bakambamba Tambwe mit Pink Eye im Orpheum Extra. Der Abend mit der österreichisch-kongolesischen Choreografin war der bisher radikalste und innovativste des Festivals. Ihr, auf Merleau-Pontys Phänomenologie der Wahrnehmung rekurierendes Motto Cast a critical eye on the gaze stellt die oben erwähnten Konventionen in Frage und enttäuscht gleichzeitig die stillschweigenden Erwartungen des Publikums an eine reibungslose Show. Einerseits fiel Elisabeth Bakambamba scheinbar unaufhörlich aus ihrer Rolle und zwar so, dass es fast ein Fremdschämen provozierte, andererseits gab es bald keinen Zweifel an der ausgefuchsten Professionalität der in Frankreich ausgebildeten Künstlerin. Schon das Kostüm, ein eng anliegender roter Overall wurde zur Haut, die sie durch alle Häutungen hindurch zu Markte trug und auch fast bis zum Ende nicht lose wurde. Während des Einlasses ragt da eine Art Sack in den pinklila Scheinwerferkreis, viel später richtet sich dieses Etwas übergroß auf, ein weiblicher Riese, der sich des Overalls zu entledigen sucht, dabei irgendwelche Gewächse oder Embryos scheinbar aus dem eigenen Körper zieht und sich schließlich hoffnungslos verfängt. Elisabeth Bakambamba zerrt an der Hülle, kreischt panisch, bekommt, unklar ob das echt oder gespielt, einen Wutanfall, bis jemand den Reißverschluss löst. Wenig später, als sie beim Überklettern der Sitzreihen mit ihrer "Haut" hängen bleibt, das Gleiche: kalkulierter Ausbruch oder unbeherrschte Reaktion einer überforderten Mittvierzigerin? Wahrscheinlich beides. Und der rasend schnell auf Französisch referierte Text von Merleau-Ponty, der auch als englische Projektion "too much" ist – Auftrumpfen einer gebildeten Schwarzen oder Hinterfragen einer nur kulinarischen Performance? Elisabeth Bakambamba erzählt von einem kongolesischen Lied, das sie von ihrer Mutter gehört hat. Nein, ihr Bruder hat ihr davon erzählt. Nein, womöglich gibt es das Lied überhaupt nicht. Die Performance bezieht ihre Kraft auch aus der Direktheit, ja aus der Distanzlosigkeit, die herzustellen Afrikaner eher imstande sind. Bei all dem bleiben der Schmerz eines konkreten Lebens und das Erbe des Kolonialismus immer präsent.
Pink Eye war die einzige Produktion bisher, in der ich Leute den Saal verlassen gesehen habe; sozusagen ein seltener Qualitätsnachweis. Diese Unvereinnehmbarkeit zeichnete Pink Eye vor den übrigen Hochglanzproduktionen aus. Von Merleau-Ponty lässt sich eine Linie bis zur Ethnomethodologie ziehen. Auch in dieser "Soziologie des Happenings" werden die Grenzen des Selbstverständlichen durch Provokation bewusst gemacht und es ist kein Zufall, dass diese Ansätze während der rebellischeren 60er und 70er Jahre entwickelt wurden.
Die sparsamen Videos und Sounds des chilenischen Multimedia-Künstlers Nicolas Spencers waren kongenial, und in ihrem einizigen Song erwies sich Elisabeth Bakambamba als großartige Sängerin. Nachdem sie so viele Vorhänge und Masken entfernt hat, reißt sie auch noch den Plastikvorhang, der die Bühne von der Rampe trennt, herunter. Das Publikum hat verstanden und applaudiert wahrhaft begeistert. Aber es gibt eben keinen Vorhang mehr, hinter dem sie noch einmal hervorkommen könnte. Und, leider, keine Zugabe. Ein kleiner, großer Abend, nein der größte bisher.

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