28/12/2010
28/12/2010

Anstatt daran zu arbeiten, die ÖBB attraktiver zu machen, um die Kundenfrequenz zu steigern, legt die zuständige Bundesministerin eine Direktverbindung nach der anderen still, mit Vorliebe jene, die von Graz in andere Bundesländerhauptstädte führen.

Die nachfolgende Erregung zeigt auf, was sich Bahnreisende in Österreich gefallen lassen müssen und sollte Frau Bures zu denken geben...

WILHELM HENGSTLER
ÖBB – historischer Sieger

Theoretisch bin ich bekennender Anhänger des öffentlichen Verkehrs, weniger gern ein ÖBB-Kunde in der Praxis. Meine theoretische Zuneigung und die durch die Praxis entstehende Frustration verhalten sich verkehrt proportional: kleine Praxis – große Sympathie, und umgekehrt … Aber was hat das (abgesehen davon, dass alles irgendwie mit Architektur zu tun hat) mit Architektur zu tun?

Das Auslaufen des Individualverkehrs – Erdölmangel, reduzierte Parkmöglichkeiten, steigende Benzinpreise, Ächtung von „Dreckschleudern“ etc, etc. – und damit der Umstieg auf den öffentlichen Verkehr ist wohl unvermeidlich. Ganz gleich, was braune, blaue und orange Verkehrslandesräte oder die Autoindustrie mit ihren Elektro-, Hybrid- und Miniautos einem vorgaukeln mögen. Und theoretisch sollte der historisch unvermeidliche Sieg der ÖBB zu einer Aufwertung der öffentlichen Räume führen, da sie ja von viel mehr Menschen frequentiert würden. Das impliziert architektonische Maßnahmen gegen die herrschende Unwirtlichkeit der Städte, z. B. menschengerechtere Wartehallen, Passagen, Bänke … soviel zur Architektur.

Aber die ÖBB strengt sich für ihren Sieg, der sich irgendwann automatisch aus dem Gang der Geschichte ergibt, nicht weiter an. Ganz nach Art der Sieger verzichtet sie auf Kundenfreundlichkeit gegenüber ihrem Souverän, dem Volk, das via Steuern ihre Defizite – teils strukturell bedingt, teils durch überdimensionierte Vorstände oder Zocken an den Börsen entstanden – begleichen muss. Im Namen der Effizienz errichtet sie die Diktatur des Apparates über das Proletariat der Zugfahrer.

Gern und häufig gebraucht sie die Durchsage: „Der Zug nach (N.N.) kommt wegen Bauarbeiten auf der Strecke vermutlich um 25 Minuten später an“. Allenfalls der Abschluss „Wir bitten die Fahrgäste um Verständnis für die Verspätung“ zitiert noch Reste bürgerlicher Höflichkeit und symmetrischer Kommunikation. Selber sperrt die ÖBB ungerührt Toiletten, verkleinert Warteräume, forciert das Schließen von Bahnhofsrestaurationen mit dem Erfolg, dass der Aufenthalt in einem öffentlichen, eigentlich der Kommunikation dienenden Raum einen beinah kriminellen Anstrich gewinnt. Die ÖBB nimmt das Entgegenkommen ihrer Kunden wie selbstverständlich in Anspruch, um sie im Gegenzug unerbittlich zu disziplinieren. Die letzte Attacke sind die geharnischten Preise für die Benützung der Bahn ohne gültigen Fahrschein.
Letzthin weigerte sich ein Vollalkoholisierter im 0 Uhr 4-Zug nach Mürzzuschlag, die Strafe von 65 Euro plus Fahrpreis zu bezahlen, weil er keine Karte gelöst hatte. Aber im Rausch sagt man die Wahrheit: 65 Euro sind eine unangemessen hohe, der drakonischen Strafe eines Diktators würdige Summe für dieses relativ kleine Vergehen. Und das trifft die schwachen Verdiener härter als die Manager, die sich das ausgedacht haben. Und um die verwaltungstechnisch kaschierte Ungerechtigkeit fortzusetzen, müssen die, die nicht genug Bargeld eingesteckt haben, per Erlagschein 95 Euro einzahlen.
Die Bahn argumentiert mit dem durch Schwarzfahrer (häufig Migranten!) entstehenden Schaden; auch in den Straßenbahnen würden solche Sozialschädlinge empfindlich abgestraft. Aber Straßenbahnen fahren häufiger, man kann in ihnen Karten lösen und ist meist von städtischer Infrastruktur umgeben.

Von Judendorf nach Graz zahlt ein Senior 1 Euro – vorausgesetzt, ein Unkundiger blockiert den einzigen Automaten nicht so lange, bis der Zug schon wieder ausfährt. In diesem Fall ist der Zugbegleiter dazu angehalten, dem Senior 65 Euro Strafe (95 mit Erlagschein) plus 1 Euro Fahrpreis für ganze 10 Kilometer zu verrechnen. Man sollte sich doch eine Karte zu Hause per Internet, unterwegs per SMS oder vorher in einer Trafik besorgen! Abgesehen davon, dass für einen Nichtraucher auf dem Land die Trafik einen sehr lästigen Umweg bedeuten mag. Man könnte natürlich auch schon 30 Minuten vor Abfahrt auf der Station sein. Dann ginge sich der Kauf des Fahrscheines sogar nach der Blockade des Automaten durch eine Senioren-Reisegruppe immer noch aus.

Aber wo steht denn, dass Zugreisende einen Personalcomputer plus Internetanschluss oder ein Cellphone besitzen oder zu finanziellen Transaktionen im Netz bereit sein müssen? Eine angeblich bequeme Technik wird stillschweigend zum Zwangs- und Disziplinierungsmittel. Zugleich verlagert die ÖBB, die doch mit öffentlichen Mitteln (das heißt also von … Sie wissen schon) bezahlt wird, einen Teil ihrer Kosten – nämlich Geräte und Zeitaufwand für den Verkauf ihrer Fahrscheine – zusätzlich auf ihre Kunden. Wohlgefällig nimmt sie darüber hinaus die Unterstützung von in der Steiermark zumindest 20(!) ehrenamtlichen Helfern an, die den von ihr verursachten Druck mildern und automatenabstinente Pensionisten „einschulen“ sollen.

Kürzlich hatte ich das Vergnügen, von Judendorf über Graz nach Feldbach zu fahren und sogar mein Ticket rechtzeitig gelöst. Allerdings nur, um zehn Minuten nach(!) der angegebenen Abfahrtszeit über Lautsprecher darüber informiert zu werden, dass der Zug wegen Bauarbeiten ausfiele. (Ja, es hing eine Notiz darüber aus, allerdings so versteckt, so verklausuliert, dass keiner der Mitreisenden sie vorher wahrgenommen hatte.) Das bedeutete, in der Winterkälte 45 Minuten bis zum nächsten Zug auszuharren, dann auf dem Hauptbahnhof (nachdem der direkte Anschluss verpasst war) weitere 30 Minuten auf den folgenden Zug, und da dieser ebenfalls Verspätung hatte, noch weitere 15 Minuten zu warten. Auf dem letzten Abschnitt der gut zweistündigen Reise nach Feldbach stellte der Zugbegleiter dann fest, dass das Ticket, das nur eine einstündige Geltungsdauer hatte, inzwischen ungültig geworden war. Ich wies darauf hin, dass das Überziehen des Zeitlimits durch die Verspätungen der ÖBB bzw. Landesbahn entstanden sei. Sollte ich nun, da ohne gültigen Fahrschein, etwa die Strafe von 65 Euro plus 4,50 (95 mit Erlagschein) für ein neues Ticket bezahlen? Etwas in meinem Gesicht hat den Zugbegleiter wohl bewogen auf seine, diesmal im Namen der Landesbahn erhobene Forderung, zu verzichten.
Nach unserem angeregten Diskurs wollte ich die einzige vorhandene Toilette benützen. Ein handgeschriebenes DIN-A4-Blatt informierte mich darüber, dass sie „aus technischen Gründen“ gesperrt sei. So werden die Bahnkunden endlich behandelt als das, was sie wirklich sind: keinesfalls Könige, sondern Unterprivilegierte. Es sind diese, als einseitige Vertragsbedingungen getarnten, Frondienste und das Messen mit zweierlei Maß, die aus Bahnreisenden Unterprivilegierte machen.

Verfasser/in:
Wilhelm Hengstler, Kommentar
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