22/07/2020

Raumgefühl

Zum Buch:
Ferdinand Schuster (1920 – 1972): Das architektonische Werk – Bauten, Schriften, Analysen

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Rezension von Emil Gruber

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22/07/2020

Buchcover

©: park books

Seite 136-137: Ferdinand Schuster: Hallen- und Freibad „Stadionbad“ Kapfenberg, 1951

©: Michael Goldgruber

Seite 202-203: Ferdinand Schuster: Katholisches Pfarrzentrum „Zur Heiligen Familie“, Kapfenberg-Walfersam, 1957

©: Michael Goldgruber

Seite 253: Ferdinand Schuster: Kindergarten Kapfenberg-Schirmitzbühel, 1964

©: Michael Goldgruber

Seite 268: Ferdinand Schuster: Dampfkraftwerk Neudorf-Werndorf I, Neudorf ob Wildon, 1966

©: Michael Goldgruber

Seite 292-293: Ferdinand Schuster: Bestattungsanlage Kapfenberg-St.Martin, 1971

©: Michael Goldgruber

"Architektur ist wie keine andere Wissenschaft und Kunst an die Gesellschaft gebunden" (aus Ferdinand Schuster: Junge Architektur – Vortrag anlässlich der 9. Kapfenberger Kulturtage 1965)

Er war "der Einzige hierzulande, der den Ansatz zu einer umfassenden Theorie gewagt hat." Von niemand geringerem als dem im Vorjahr verstorbenen Friedrich Achleitner stammt diese Essenz zu Ferdinand Schuster, der heuer 100 Jahre alt geworden wäre.
Die Leistungen Schusters, dessen Leben 1972 mit nur 52 Jahren am Hochschwab unter nicht näher geklärten Umständen endete, gerieten eine Zeit lang etwas in den Hintergrund der Wahrnehmung. 2006 setzte die Intro-Graz-Spection mit der Ausstellung Prozess und Standpunkt an der TU Graz und dem Theaterstück Die Walzermembrane – Eine Annäherung an Ferdinand Schuster von Joachim Vötter in der Regie von Hubsi Kramar ihren Jahresschwerpunkt rund um den Architekten.
2020 erinnert das Haus der Architektur Graz mit einer großen Ausstellung an diesen Vordenker der 1950er und 1960er. Zeitgleich ist auch eine umfassende Dokumentation in Buchform erschienen: Ferdinand Schuster (1920 – 1972): Das architektonische Werk – Bauten.Schriften.Analysen.
Das von Daniel Gethmann herausgegebene Buch ist ein pralles Kompendium, das den „ganzen“ Schuster zeigt: vom Geigenbauer bis zum Visionär.
In einer Zeitspanne von 30 Jahren hinterließ Schuster nicht nur eine Vielzahl an nach wie vor existierenden Bauten, von denen ein hoher Anteil unter Denkmalschutz steht. Auch seine Schriften und Vorträge an der Technischen Hochschule, der heutigen TU Graz, bereichern die Architekturtheorie, laden zu aktuellen Analysen ein.
Schusters Leitmotive ziehen sich als roter Faden durch sein Werk: Kontakt mit Gesellschaft suchen; Architektur als Diskurs entwickeln; die eigene Bausprache in funktionale Architektur umsetzen. Bauen – Lehren – Forschen.
In Architektur und Politik seiner Antrittsvorlesung an der TU Graz  – Schuster hatte von 1964 bis zu seinem Tod den Lehrstuhl für Baukunst und Entwerfen inne – setzte er ein klares Zeichen zum Aufbruch aus dem damals noch muffigen Österreich; „Freie Entfaltung der Persönlichkeit in einer freien Gesellschaft verkündigen unsere demokratischen Politiker als oberstes Ziel ihrer Parteiprogramme. Also stellen wir diese Ideale glaubhaft vor den Wähler hin, bauen wir zum Beispiel Verwaltungsgebäude, Rathäuser, Ministerien, in welchen sich der Bürger wirklich als freies Mitglied einer freien Gesellschaft fühlen kann. Dazu muss man eben den Mut zum Experiment haben und das Vertrauen auf die Kraft der Imagination.“
Die erstmals umfassend zur Verfügung stehenden kritischen Schriften Schusters geben Einblick in das Denken des Architekten, für den die Öffnung der Architektur hin zum Menschen als Fundament jeder Planung feststand. Sein gleichzeitiges Bekenntnis zu einer ständigen Erneuerung integrierte junge Wissenschaften wie Kybernetik oder Semiotik in die Lehre. Für Schuster galt die Maxime: Jeder Entwurf ist untrennbar mit Reflexion verbunden.
Seinen Berufsschwerpunkt außerhalb der Universität hatte Schuster als Baureferent in Kapfenberg. Seine Bildungsbauten und Wohnhäuser prägen diese Stadt bis heute. Eine der schönsten posthumen Auszeichnungen für einen Architekten, die zeitlose Gültigkeit des gebauten Objekts, erzählte der Fotograf von Ausstellung und Buch, Michael Goldgruber. Als er von Schuster geplante Doppelhäuser aus den 1950ern besuchte, erzählten ihm die heutigen Bewohner von hoher Zufriedenheit und Wohnqualität. Schusters Bauweise ließ ohne große Eingriffe sich über die Jahre leicht an neue Notwendigkeiten anpassen.
Dieses „erbarmungslose Praktische“ (Zitat Claudia Gerhäusser) hat Bestand. Das städtische Schwimmbad ist auch so ein Klassiker der Moderne ohne jede Patina. Bisher wurde noch kein von Schuster in Kapfenberg geplantes Objekt abgerissen.
Eine zentrale Rolle bei den knapp 140 Bau- und Planungsprojekten nahmen sakrale Bauten ein. In vielen dieser Projekte fand er mit Mario Decleva, einem der wichtigen Maler der österreichischen Nachkriegsmoderne, auch einen kongenialen Partner. Alle Bauten überzeugen durch offene, schnörkellose Raumgestaltung in der Architektur und der sie begleitenden künstlerischen Eingriffe Declevas. Sie schälen die eigentliche Funktion heraus, geben dem Kontemplativen einen klaren Rahmen. Demensprechend ausführlich werden Pfarrzentren wie in Kapfenberg-Walfersam oder Leoben-Hinterberg, St. Paul in Graz-Waltendorf oder die Bestattungsanlagen in Kapfenberg-St.Martin und in der Veitsch im Buch besprochen.

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Ferdinand Schuster (1920 – 1972)
Das architektonische Werk – Bauten, Schriften, Analysen.
Herausgegeben von Daniel Gethmann
Mit Beiträgen von Sabine Christian, Lorenzo De Chiffre, Daniel Gethmann, Eugen Gross, Clemens Haßlinger, Heimo Kaindl. Arnold R. Kräuter, Bruno Maldoner, Holger Neuwirth, Felix Obermair, Volker Pachauer, Winfried Ranz, Ferdinand Schmölzer, Antje Senarclens de Grancy und Jörg Uitz.
Fotografien: Michael Goldgruber
420 Seiten, 332 farbige und 154 sw Fotografien,
Zeichnungen und Planabbildungen
Park Books 2020, € 58,00
erhältlich im HDA Graz und im Buchhandel

Jörg Uitz

Das Zitat "Das erbarmungslose Praktische" stammt von Theodor W. Adorno.
In seinem Essay "Funktionalismus heute" (Ohne Leitbild, p. 111, edition suhrkamp,1957) heißt es: "Fast jeder Verbraucher wird das Unpraktische des erbarmungslos Praktischen an seinem Leib schmerzhaft gespürt haben.

Sa. 26/09/2020 8:47 Permalink
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