01/03/2019

Schier endlose Annäherung – Von der ville zur cité

Die offene Stadt von Richard Sennett wäre besser als Autobiografie erschienen.

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Richard Sennett
Die offene Stadt. Eine Ethik des Bauens und Bewohnens
Hanser Berlin, 2018
€ 32,90

01/03/2019

Cover: Richard Sennet – Die offene Stadt. Eine Ethik des Bauens und Bewohnens. Hanser Berlin, 2018

Aus der Herleitung der christlichen Metapher zweier Arten von „Stadt“ – die Gottes und die der Menschen – findet der Soziologe und Historiker Richard Sennett in seiner dokumentarisch und analytisch angelegten Bearbeitung zum Doyen der Mittelalterforschung Jacques Le Goff und dessen Unterscheidung zwischen ville und cité – den „physischen Ort“ nämlich „und eine aus Wahrnehmungen, Verhaltensweisen und Glaubensüberzeugungen bestehende Mentalität“. An einer Vielzahl durchwegs selbst erfahrener Beispiele breitet Sennett nun ein Panorama aus, in dem er – ganz im Sinn des Essays – Versuche anstellt, überwiegend misslungene Beispiele von Stadt-Planung und -Entwicklung, unter Aspekten einer Annäherung zwischen ville und cité, vorzuführen. Schon in der Einleitung führt er das verbindende Desiderat als „offene Stadt“ an, angelehnt an Karl Poppers Die offene Gesellschaft und ihre Feinde (1945). Über gut 400 Seiten kreist der Autor in der Folge um einen thematischen Kern, über den er zwar das Wesen der offenen Stadt erläutern will – allein, es bleibt bei der Auflistung historischer Theorien, der Beschreibung persönlicher Erlebnisse mit ihm bekannten Theoretikern wie Jane Jacops, Lewis Mumford oder William Mitchell respektive den immer wieder als antithetisches Beispiel herangezogenen Plan Voisin von Le Corbusier.

Nach Handwerk (2008) und Zusammenarbeit: Was unsere Gesellschaft zusammenhält (2012) hat Richard Sennett mit Die offene Stadt, Eine Ethik des Bauens und Bewohnens nun den abschließenden Band seiner Homo-Faber-Trilogie vorgelegt. Sollte man erwartet haben, die Diskussion des Bauens und Bewohnens führte in eine Verhandlung um Ethik im Sinn der cité, wird man von der Lektüre wohl enttäuscht sein. Building and Dwelling des Originaltitels verweisen dagegen deutlicher auf Sennetts Strategie des Flanierens gleichermaßen durch die Stadt wie durch die Literatur – und sei es die eigene. Eingangs erzählt der Autor von seinen Begegnungen mit der Architekturkritikerin Jane Jacobs. Ihr gelang es in den 1960er Jahren, eine groß angelegte Flächensanierung des New Yorker Stadtplaners Robert Moses in Greenwich Village zu verhindern. Damit verbunden war ihre Haltung, Stadtentwicklung dürfe nicht oktroyiert werden, vielmehr müsse sie aus der gemeinschaftlichen Intention der Bewohner hervorgehen. „Was würden Sie tun?“ wurde Sennett von Jacobs gefragt.
Hinsichtlich Stadtplanung erzählt Sennett von einer diametralen Haltung Jacobs gegenüber ihrem Kollegen Lewis Mumford. Der wiederum sei ein Befürworter des Masterplans gewesen. Und das irritiert. Wer Mumfords Die Stadt, Geschichte und Ausblick (1961) gelesen hat, wird wohl die Präferenz etwa für Ebenezer Howards Gartenstadt bemerkt haben – dass er ein Befürworter der Planstadt gewesen sei, sollte man Mumford allerdings nicht attestieren.
Nach ausführlichen und immer wieder angeführter Beschreibungen des Plan Voisin als – nie ausgeführter – radikaler und gesellschaftlich fragwürdiger Umgestaltung von Paris, Frederick Olmsteds Central Park in New York – in der Absicht gescheitert, eine Begegnungszone für Amerikaner verschiedener Gesellschaftsschichten zu realisieren -, Cerdás Barcelona und Haussmanns Paris erzählt uns Sennett über weite Strecken von seiner neu zu findenden Raumerfahrung während der Rehabilitation nach einem erlittenen Schlaganfall.

Nach Episoden aus Medellín und Berlin – man soll mit Fremden auf gewisse Weise kommunizieren – führt uns Sennett, sehr kursorisch, in die gegenwärtig praktizierten Verfahren computerbasierten Entwerfens ein. Und der nach wie vor geduldige Leser mag sich fragen, ob der Professor auch hier der Erfüllung des Kontrakts, hinsichtlich bestimmten Umfangs seiner Schrift, durch Erstellen von Sätzen und Füllen von Seiten nachkommt. Zusehends entsteht der Eindruck, Sennet habe sich im Umzirkeln seines Themas in der offenen Stadt verlaufen. Nachgerade skurril beispielsweise wird die Abhandlung, wenn von „saatähnlicher Planung“ die Rede ist. Gegenüber architektonischer „Schalen und Typenformen“ wird in einer plötzlichen Anrede an den Leser erklärt, dass Typenformen wie Saatgut betrachtet werden: „Wären Sie Landwirt“, hebt Sennet in dieser Anwandlung auf Seite 293 an, „verstünden Sie sogleich, worum es in dieser Planung geht, aber leider haben Sie zu viel Zeit in Cafés verbracht. Auf einem Bauernhof hätte Ihr ländliches Ich bemerkt, dass dieselbe Saat unter verschiedenen Wasser-, Wind- und Bodenverhältnissen ganz unterschiedliche Pflanzenkolonien hervorbringt, manche dicht mit Blättern besetzt, aber nur wenige mit Blüten und Früchten, während andere Kolonien aus relativ wenigen, dafür jedoch kräftig wachsenden Pflanzen […]“.
Jesus! sagt Sennett an dieser Stelle nicht, müsste spätestens jetzt aber der gar nicht mehr geneigte Leser rufen, woher weiß der Professor, womit ich meine Zeit verbringe, wenn nicht mit Sennett?! Das koreanische Songdo wird als Beispiel für Tendenzen zur Smart City herangezogen. Statt einer Erwähnung Mumfords, der diesbezügliche Befürchtungen schon 1961 publizierte, führt der Autor seinen Freund am MIT, William Mitchell, an, der mit City of Bits die vernetzte und gesteuerte Stadt 1995 prognostizierte. Um den Charakter der cité zu wahren, wird nun empfohlen, „koordinierende“ anstelle „kontrollierender“ Systeme anzulegen. Eine nachvollziehbare Unterscheidung der Kategorien bietet Sennett allerdings nicht.

Landwirte demnach wissen es schon und müssen Die offene Stadt nicht gelesen haben. An Stadtplanung Interessierte wohl auch nicht – bei allem Respekt gegenüber dem bisherigen Werk von Richard Sennett.

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