29/04/2013

Selfmade City. Berlin

Karin Wallmüller zum Buch über Stadtgestaltung und Wohnprojekte in Eigeninitiative

Herausgeberin
Kristien Ring, AA Projects
in Kooperation mit der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung Berlin.
Jovis Verlag
Deutsch/Englisch
21 x 27 cm,
224 Seiten mit zahlr. farb. Abb.
Euro 29,80

Erscheinungstermin:
Februar 2013
ISBN 978-3-86859-167-5

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29/04/2013

Beispiel: 3XGRÜN _ Görschstrasse 48/49, Beispiel urbaner Holzarchitektur, 5 Geschoße. Architektur: IfuH _ Atelier PK, Roedig.Shop, Rozynski-Sturm und Harald Haertwig.

Beispiel: 3XGRÜN _ Görschstrasse 48/49, Beispiel urbaner Holzarchitektur, 5 Geschoße. 
Architektur: IfuH _ Atelier PK, Roedig.Shop, Rozynski-Sturm und Harald Haertwig.

Beispiel: 3XGRÜN _ Görschstrasse 48/49, Beispiel urbaner Holzarchitektur, 5 Geschoße.
 Architektur: IfuH _ Atelier PK, Roedig.Shop, Rozynski-Sturm und Harald Haertwig.

Cover

©: JOVIS Verlag GmbH

Stadtgestaltung und Wohnprojekte in Eigeninitiative

Kristien Ring, Autorin und Herausgeberin von auf. einander. bauen (2007) und Kuratorin der gleichnamigen Ausstellung im DAZ - Deutsches Architektur Zentrum, hat mit Selfmade City eine umfassende Bestandsaufnahme aktueller Berliner Baugruppenprojekte und diverser Quartierentwicklungen erstellt und wissenschaftlich bearbeitet. Sie legt damit nicht nur eine spannende Lektüre vor, sondern eine Arbeit, die bei zukünftigen Projekten in der Stadt nicht mehr zu umgehen ist: Ein Aufruf zur Beteiligung der BürgerInnen als essentieller Bestandteil einer zukunftsweisenden Architektur- und Stadtentwicklungspolitik.  

be Berlin
Berlin ist, wie Kristien Ring feststellt, die Stadt der Raumpioniere. In den letzten zwei Jahrzehnten ist hier unter dem Motto be Berlin eine architektonische Vielfalt und urbane Qualität entstanden, wie sonst nirgendwo. Allerdings: Um die Selbstbestimmung des eigenen Lebensumfeldes zu erhalten, sei es notwendig, Rahmenbedingungen für selbstbestimmtes räumliches Handeln abzusichern. Warum es sich lohnt, diese Voraussetzungen zu schaffen bzw. zu erhalten, hat Kristien Ring zum Ziel ihres Buches gemacht.

Warum nehmen Akteure ihre Projekte selbst in die Hand? Einerseits aus dem Mangel an bedarfsgerechten Angeboten am Markt, andererseits aus dem Bedürfnis nach Verwirklichung eigener Vorstellungen. Was dabei in Berlin speziell im Wohnbau an hochqualitativen Bauten entstanden ist, ist beispielhaft und großteils selbstinitiiert. Kristien Ring analysiert die realisierten Projekte hinsichtlich architektonischer und sozialer Qualitäten, die in die Zukunft hinein, also nachhaltig wirken. Sie hebt dabei vor allem jene Projekte heraus, die über das persönliche Wohnen hinaus übertragbare Lösungsansätze verfolgen, die der Gemeinschaft, der Nachbarschaft und dem urbanen Lebensumfeld dienen (können).

Analyse & Conclusio
Kristien Ring arbeitet in Selfmade City heraus, was die Besonderheit der Berliner Selfmade-Kultur ausmacht und welche positiven Wirkungen diese Projekte für die Stadt leisten. Andererseits aber auch, was die Stadt zu leisten hat, um Selfmade zukünftig abzusichern. Und nicht zuletzt, welche Potenziale in einer Kooperation von Selfmade und Stadt, von Politik, Verwaltung und Akteuren, stecken. Die Autorin beleuchtet in ihrem Buch 125 Berliner Selfmadeprojekte, davon 119 Wohnprojekte der letzten 10 bis 15 Jahre. Umfangreich recherchiert, werden sie in 9 Stadtgebieten erfasst und kartografiert, 51 von ihnen sind tiefergehend analysiert. Die Analyse beruht auf Qualitätskriterien, die den Mehrwert der Projekte beschreiben: Art und Anzahl der Gemeinschaftsflächen / Vorhandene hybride Nutzungskonzepte / Urbane und nachbarschaftliche Interaktion / Ökologie / Besondere Flexibilität der Grundrisse bzw. des Nutzungskonzeptes / Qualität der Architektur / Bezahlbarkeit bzw. Kostengünstigkeit (unter 2.000 €/m2).

So konnte anhand von Projekten dargestellt werden, dass Gemeinschaftsflächen nicht nur das soziale Miteinander, sondern auch die Interaktion mit der Nachbarschaft fördern (was wiederum für die Zukunft der Vergabe- und Förderpolitik eine Rolle spielen kann). Die Analyse zeigt auch, dass Baugruppen nicht - was ihnen teilweise unterstellt wird - zur Gentrifizierung beitragen, denn sie sind grundsätzlich an ihrem Umfeld und guter Nachbarschaft interessiert. Sie tragen eher zur Stabilisierung bei und schaffen nachweislich gesellschaftlichen Mehrwert.

Als eines der tiefergehend analysierten Beispiele, die auch für Österreich relevant sind, sei der Wohnbau aus vorgefertigten Holzbauteilen in der Görschstraße 48/49 genannt, der von der Arge Atelier PK, Roedig. Shop, Rozynski-Sturm und Harald Haertwig geplant wurde und wegen seiner ökologischen und sozialen Aspekte hevorzuheben ist (siehe Anhang 3XGRÜN und Bilderleiste).

Zukunftsperspektiven
Wichtig für die Zukunft sei, dass Modelle geschaffen werden, an denen auch Menschen mit geringen finanziellen Mitteln teilnehmen können und dass nicht nur über Privatinitiative, sondern auch durch die öffentliche Hand soziale Wohnräume geschaffen werden. „Aber: Nicht alles, was im Eigentum entsteht, läuft zwangsläufig auf Gentrifizierung hinaus, genauso wie nicht alles, was bezahlbar ist, auch qualitätsvoll und inklusiv ist. “ (10) Ebenso wichtig für die Zukunft sei, dass zur Sicherstellung bezahlbaren Wohnraums auch das Baurecht (verbunden mit stadtpolitischen Zielsetzungen) als Vergabeform von Grundstücken nicht nur von Stiftungen, sondern auch von der öffentlichen Hand eingesetzt wird. Gleichzeitig könnte durch die Mischfinanzierung von Projekten (z. B.: Eigentümer + öffentliche Hand + Bauträger) eine soziale Mischung der Bewohner erzielt werden: „Langfristig mietpreisgebundene Wohnungen können innerhalb von Baugruppen entstehen und in Selbstverwaltung von den Baugruppen organisiert werden. “ (10)

Statements

Eine kritische gesellschaftspolitische Bewegung
In zwei Jahrzenhnten sind Baugruppenprojekte in Berlin ein fixer Bestandteil des Wohnbaus und der Stadtentwicklung geworden. Durch gemeinsame Planung der zukünftigen Bewohner sind bedürfnisgerechte Lösungen und Antworten auf zentrale Fragen des Wohnens entstanden. Sozial nach innen, wirken diese Projekte ebenso nachhaltig nach außen ins Quartier. Das stellt auch Michael Müller, Senator für Stadtentwicklung und Umwelt, Berlin fest: „Kristin Ring stellt in ihrem Buch mit präzisem Blick auf die Details die Entwicklung von Baugruppen in ihrer ganzen Breite vor und (...) dass hier auch eine kritische gesellschaftspolitische Bewegung in Gang gekommen ist, die sich als Alternative, ja als Gegenmodell zum investiven Bauen versteht“. (1)

Kultur der Freiheitsräume
Aufgrund seiner Insellage, des Zuzugs von Kreativen und der Geldflüsse des Bundes entstand lt. Rolf Novy-Huy zwischen 1970 und 2000 eine deutschlandweit einzigartige stabile alternative Kultur der Freiheitsräume. Allerdings haben danach auch die Berliner lernen müssen, mit den üblichen Instrumentarien und eigenem Geld, Projekte zu realisieren. „Internationale Investoren entdecken jetzt die Stadt, die Mieten steigen und Brachflächen wie leere Gebäude nehmen rasant ab“. (2) Jedoch hatte die Selfmade-Kultur der Baugemeinschaften ohne nennenswerte Förderungen und Unterstützungen seitens der Politik zukunftsweisende Lösungen des Bauens und Wohnens zustande gebracht und darüber hinaus Berlin mitgestaltet. (3)

Große Bandbreite der Lösungsansätze
Die Vielfalt der Projekte und die große Bandbreite der Lösungsansätze sind die Besonderheiten dieser Kultur der Baugruppen, die nach dem Motto Entwickle dich selbst, entwickle die Stadt arbeiten. Matthew Griffin, Architekt und Mitglied der Initiative  Stadt Neu Denken ist überzeugt, dass die Stadt von der zunehmenden Beteiligung der Bewohner nur profitieren kann. (4) Und Florian Heilmeyer, Architekturjournalist und Kurator, Berlin stellt fest: „Das Prozesshafte, das Unklare, das Unfertige ist nicht das Gegenteil von Architektur, sondern kann ihren Kern bilden. Ein solches Verständnis von Architektur als flexible, transformative und eher auf eine Strategie als auf ein Ergebnis ausgerichtete Stadtveränderungskunst könnte uns in den nächsten Jahren enorm hilfreich und vielleicht typisch Berlin sein.“ (5)

Lokalspezifische Netzwerke
Nikolai von Rosen weiß, dass Baugruppen über das Bauen hinaus lokalspezifische Netzwerke gegründet haben und diese auch verwalten. Es werden Bürgerinitiativen zu verschiedenen Themen wie Mietpreiserhöhung und bedarfsgerechte Stadt gegründet, aber auch Einrichtungen zur Kinderbetreuung betrieben oder gemeinsam in der Stadt gegärtnert. Aus der jeweiligen Situation heraus würden Ideen entwickelt, sodass von einer „Befreiung aus den Fesseln veralteter Stadtplanung von oben gesprochen werden kann. “ (6)

Reaktion auf starre Wohnungstypologien
Selfmade sei, so Architekt Jörg Ebers, die Reaktion auf die starren Wohnungstypologien des Immobilienmarktes, der es verabsäumt, aneignungsfähige Räume hervorzubringen. Selfmade brauche aber auch verantwortungsbewusste engagierte Akteure und genug verfügbare Grundstücke oder Bestandsobjekte. Er bezweifelt, dass Politik und Verwaltung diesen Unternehmungen überhaupt nützen, weil die Gefahr bestehe, dass Förderkriterien einem Projekt - speziell am Anfang - schnell die Leichtigkeit nehmen können. (7)

Immobilienmarkt ist viel zu teuer
Architekt Christian Schöningh hofft, dass es den Baugruppen gelingt, den Immobilienmarkt mit seinen viel zu teuren und qualitativ schlechten Angeboten am Wohnungsmarkt zurückzudrängen. Denn: „Nonprofit bedeutet nicht nur die Erreichbarkeit von selbstgenutztem Wohnraum für durchschnittliche, unter Umständen sogar unterdurchschnittliche Einkommensgruppen, sondern in jedem Fall, dass der abtransportierte Gewinn eines Bauträgers bei den Bauherren verbleibt und für weiteres lokales Wirtschaften zur Verfügung steht. “ (8)

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Anhang

Geschichte der Selfmade-Kultur in Berlin
1980 - 2002 Selfmade begann in den 1980er Jahren, vor allem anlässlich der IBA 87, als es der Stadt gelang, über 100 alte Mietshäuser im Bezirk-Kreuzberg zu retten, indem sie an Hausbesetzer verkauft oder vermietet wurden; allerdings mit der Auflage, die Häuser nach Vorgaben und Förderrichtlinien zu sanieren. Nach der Wende erlebte Kristien Ring, die Architekturstudentin aus Amerika, den heruntergekommenen Berliner Osten hautnah als verlassenes Niemandsland, als Grauzone im wörtlichen Sinn. Jedoch hatten sich damals schon Bewohner in den Stadtteilen Prenzlauer Berg und Mitte dafür eingesetzt, dass ihre Häuser nicht weiter verfielen. In den frühen 1990er Jahren entstand dann eine starke Selfmade-Kultur, die zur Gründung der Selbstbau e. G (Baugenossenschaft) führte. Zudem ermöglichte die Stadt mit dem in der IBA 87 entwickelten Programm „Bauliche Selbsthilfe“ zwischen 1984 und 2003 über 300 besetzten Häusern in Ost- und West-Berlin eine offiziell gestützte Sanierung und Selbstgestaltung.
Diese Projekte haben sich als Vorbilder für nachfolgende eigeninitiierte Projekte in das Bewusstsein der Akteure eingeschrieben. „Im Gegensatz zu Kreuzberg wurden die Renovierungen in Prenzlauer Berg und Umgebung nicht von denjenigen ausgeführt, die in den Häusern lebten, sondern führten vielmehr überwiegend zum Austausch der Bewohner“. (9) Neue Besitzer griffen auf Gebäude zu und erhöhten die Mietpreise. Allerdings gab es noch ehe sie zugreifen konnten, viele kleine selbstinitiierte Projekte, meist gewerblich genutzte Erdgeschoßzonen, die das Straßenbild fast täglich veränderten. Auch diese Initiativen haben ihre Spuren im Gedächtnis vieler Berliner hinterlassen.
2002 - 2013
Als nach dem Ende des städtischen Förderprogramms 2002 auch das Ende der Investitionen neuer Hausherren gekommen war, blieben immer noch genügend Baulücken und Bestandsobjekte übrig, um die Fantasie neu zu entzünden. Diesmal waren es vor allem Familien, die sich ihre Wohnwünsche in der Stadt erfüllen wollten und nicht mehr auf Miete, sondern auf Eigentum abzielten. Sie entwickelten ihre Projekte selbst oder mit Architekten, wodurch eine Reihe innovativer Lösungen entstanden. Erst relativ kleine, doch mit den Erfahrungen aus diesen werden zunehmend größere Areale entwickelt. Mit den größeren Projekten kommen auch Fragen sozialer und urbaner Qualitäten in den neuen Stadtteilen ins Spiel.

Beispiel:

3XGRÜN _ Görschstrasse 48/49, Beispiel urbaner Holzarchitektur Architektur: Arge Atelier PK, Roedig. Shop (u. a. ten in one), Rozynski-Sturm und Harald Haertwig. 5 Geschoße in Holzfertigteilbauweise / Flexible, veränderbare Grundrisse / soziale Ausrichtung, Nachbarschaftskontakte, gemeinschaftliche Nutzung im Eingangsbereich, im Garten und auf der Dachrerrasse / Maisonetten im EG und 1. OG, Geschoßwohnungen im 2. und 3. OG.
Von der Bauherrenberatung, Projektsteuerung und Architektur bis hin zu Brandschutz, Gebäudetechnik und Holzbau haben sich verschiedene Fachleute zu einem Forschungsverbund zusammengeschlossen (ifuH), um gemeinsam ein Konzept zu erarbeiten. Als Ergebnis sind Strategien für mehrgeschoßige Stadthäuser in Holzbauweise entstanden, die in ein architektonisches Gesamtkonzept münden. Dieses wurde so angelegt, dass unterschiedlichste Nutzergruppen schon im Planungsstadium möglichst großen Einfluss auf die Gestalt ihres späteren Wohnraums haben. Dieses Umsetzungsmodell steht in Verbindung mit einer darauf abgestimmten Handlungsanleitung für die Projektierung, die Planern wie Bauherren als Leitfaden dienen soll. Die Planungsabläufe wurden dadurch systematisiert und die Entscheidungsprozesse der Bauherren somit vereinfacht.

(1)    Michael Müller, Senator für Stadtentwicklung und Umwelt, Berlin. Selfmade City, Vorwort S. 2
(2)    Rolf Novy-Huy, Stiftung trias, Hattingen. Selfmade City, Intro S. 10
(3)    Constance Cremer, Stadtbau GmbH Berlin. Selfmade City, Intro S. 11
(4)    Matthew Griffin, Architekt und Mitglied der Initiative ,Stadt Neu Denken‘, Berlin. Selfmade City, Intro S. 11
(5)    Florian Heilmeyer, Architekturjournalist und Kurator, Berlin. Selfmade City, Intro S. 12
(6)    Nikolai von Rosen, Künstler und Kurator, Berlin. Selfmade City, Intro S. 12
(7)    Jörgs Ebers, Architekt Berlin. Selfmade City, Intro S. 12
(8)    Christian Schöningh, Architekt, Berlin. Selfmade City, Intro S. 13
(9)    Kristien Ring, Selfmade City, S. 19
(10)  Kristien Ring, Selfmade City, S. 220

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