21/12/2003
21/12/2003

"Über Gehen und Träumen - der Flaneur und der Stadtbenutzer" - von Peter ArltDer Flaneur

Dem Flaneur wird die Großstadt zum Traum. Es ist eine imaginäre Besetzung der Wirklichkeit, die sich an der Realität der Architektur entzündet. Das Imaginäre entsteht erst durch ein genaues Hinsehen, Hinfühlen, Empfinden – nicht in einem Negieren. Die materielle und physische Dimension des Ortes löst sich dabei aber auf – die sichtbare, reale Ordnung
wird dekonstruiert. Losgelöst von ihrer ursprünglich intendierten Bedeutung erhalten die Orte
nun einen ganz privaten Sinn. Sie werden zum Umschlagsplatz von Besetzungen und Bedeutungen persönlicher (auch wechselnder) Art. Es ist eine immaterielle (mentale, psychische) Wirklichkeit.

Die Vergesellschaftung des Menschen greift an diesen Orten nur bedingt. Man weicht von der normalen Konvention ab, man „missversteht" den Ort, man entstellt das Realitätsprinzip. Die Außenwelt wird eine Verlängerung des eigenen Leibes, verliert ihre funktionale Normalität und wird zur mythologischen Wildnis.

Der Stadtbenutzer

Der Flaneur war und ist eine Randerscheinung. Der normale Bewohner nimmt Stadt anders wahr – es sei denn er fährt in eine andere Stadt und fühlt sich dort als Tourist.

Verfolgen Sie einmal ihre alltäglichen Wege. Ich bin mir sicher, dass ihr Weg
nur in den seltensten Fällen der kürzeste Weg zu ihrem Ziel ist; dass sie
immer an derselben Stelle die Straße überqueren, immer in dieselben
Schaufenster blicken; dass sie gewisse Straßen benutzen / meiden, weil sie
deren Namen zum Beispiel anziehend oder abstoßend finden. An gewissen Orten finden sie sich immer wieder ein, kommen Sie immer wieder vorbei, ohne sich erklären zu können,
was sie hier eigentlich suchen. Der normale Bewohner besitzt ein gewisses Repertoire an Wegen in der Stadt, die er regelmäßig benutzt: mit den Endpunkten Wohnung, Arbeitsplatz, Bäcker, Supermarkt, Freunde.

„Eine Stadt bewohnen heißt, durch sein tägliches Kommen und Gehen ein Netz
aus Wegen darin zu spinnen (...), ein engmaschiges Geflecht von Wegen . . .".
Der Faltplan einer Stadt deckt sich nie mit dem geistigen Bild, dass auf Grundlage unserer täglichen Streifzüge entstanden ist. Diese Spuren erzeugen eines dieser „realen Systeme, deren Existenz eigentlich die Stadt ausmacht" (Ch. Alexander), obwohl sie nicht sichtbar,
nicht zu verorten sind. (Man kann da natürlich Diagramme anfertigen, indem man die Wege
transkribiert (Situationisten), aber diese Linien verweisen auf die Abwesenheit von etwas, was vergangen ist, sie lassen weg was war: den Akt des Vorübergehens, den Vorgang des Gehens.)

Der Fußgänger eignet sich durch das Gehen den Weg an. Der Fußgänger verwirklicht / fixiert erst den Weg:

„Als Gehender fügt sich unser Körper dem Druck eines Stadt-Textes, den wir schreiben, aber nicht lesen können. Als Stadtbenützer spielen wir mit unsichtbaren Räumen; wir haben eine blinde Kenntnis der Räume . . .".

Wir halten fest:

(1.) Die alltäglichen Orte werden zuallererst benutzt und nicht wahrgenommen.

W. Benjamin unterscheidet zwei Rezeptionsformen von Bauten: ihren Gebrauch und ihre Wahrnehmung bzw. taktile und optische Rezeption. Die taktile Rezeption erfolgt demnach nicht durch Aufmerksamkeit, sondern durch Gewohnheit: „Der Architektur gegenüber bestimmt die Gewohnheit weitgehend sogar die optische Rezeption. Auch sie findet von Haus aus viel weniger in einem gespannten Aufmerken als in einem beiläufigen Bemerken statt." Also genau nicht das genaue Hinsehen, Hinfühlen, Empfinden des Flaneurs.

(2.) Die ,blinde Kenntnis' des Raumes ist ein Prozess. Der Gebrauch des Raumes ist abhängig von der Zeit.

Vier Phasen sind beim Gebrauch des Raumes zu unterscheiden:

- 1. Phase: Orientierung

Zu Beginn ist man mit Orientierung beschäftigt. Man schaut und beobachtet: alles ist neu. Das betrifft den Raum, aber auch soziales Verhalten, welche Codes, Verhaltensregeln hier gelten, was ich darf und was nicht. Der Raum liefert permanent ,Überraschungen', weil man da nicht alleine ist, andere ihn auch benutzen und man dauernd gefordert ist, mit den anderen irgendwie zurechtzukommen. Man geht also ununterbrochen Beziehungen ein, die im Normalfall flüchtig bleiben (müssen).

Der Raum selbst wiederum bietet dem Gehenden verschiedene Möglichkeiten – er kann auswählen: es gibt Gehwege, Fußgängerübergänge, Ampeln, Bänke, Eisstände, Abfallkörbe,
Briefkästen, Schatten und Sonne . . .

„Das Gehen bestätigt (...), respektiert den Weg, den es ,spricht’".

Der Vorgang des Gehens ist selbst die Wirkung von aufeinanderfolgenden Begegnungen und Gelegenheiten, die nicht aufhören, ihn zu verändern.

- 2. Phase: Orientierung an Formen: Wege, Brennpunkte, Merkzeichen, Grenzen, Bereiche (K. Lynch).

Es gibt gewisse Punkte am Weg, die man (wieder-er-)kennt: der Weißenseer Spitz, Ausfallstrassen, markante Kreuzungen, Türme: ,ah – da bin ich.' – man wird vertrauter. Der Blick richtet sich auf Details in unmittelbarer Umgebung, die man nicht unbedingt zur Orientierung braucht.

Der Blick geht auch nach oben, man stellt Vergleiche an: „Was hat sich verändert?" Man schaut nicht nur, sondern beginnt zu hören, zu riechen. Man beginnt als Gehender die Möglichkeiten des Raums anders zu nutzen als vorgesehen, z.B. als Trampelpfad. Man improvisiert.

Das Gehen bestätigt nicht nur den Weg, den es spricht, es bezweifelt, wagt, überschreitet ihn auch.

- 3. Phase: Heimatgefühl entsteht, emotionale Verbundenheit mit der eigenen Umgebung, aber nur an bestimmten Wegbereichen (Schwellen und Körper): Symbolisierung und Identifikation.

Immer wieder, ohne ihre Wege wirklich / bewusst wahrzunehmen, gewöhnen sie sich an ihre alltägliche Umgebung. Sie wird ihnen vertraut, sie gewinnen Sicherheit, wissen wie / von wem / wann diese Orte genutzt werden und werden selbst ein Teil der Wirklichkeit dieser Orte.

Der begangene Weg wird nie vollständig wahrgenommen, sondern in Sequenzen (Schwellen) zerlegt. An gewissen Stellen wird der Weg „mehr" – einzelne Elemente stehen für ein Größeres, andere werden schlicht „ausgelassen", nicht registriert. Der Weg verläuft in Sprüngen: von verdichteten Punkt zu verdichteten Punkt. Wir nehmen ihn diskontinuierlich wahr, er verfügt über Zitate und Lücken. Diese phasenhafte Aufeinanderfolge von Zitaten bzw. Symbolen macht aus der Umgebung etwas Organisch-Bewegliches. An diesen einzelnen Punkten entlang eines Weges verbindet man sich mit dem Weg. Der Weg wird eine fragmentarische Geschichte voller Andeutungen.

Die Punkte oder Orte, an denen man hängenbleibt, die etwas in einem auslösen, sind nun nicht mehr jene markanten Wegmarken / Orientierungspunkte der 2. Phase; sie haben nicht immer etwas mit einer konkret an diesem Ort erlebten Geschichte zu tun. Diese mit dem konkreten Ort verbundene Geschichte ist eine fast immer persönliche, ja intime Geschichte und für andere am Ort nicht zu lesen. Die Orte besitzen in sich gekehrte Erzählungen, sie sprechen nicht von selbst. Sie sind schweigsam und erst durch den Akt der Erinnerung werden sie zum Leben erweckt.

Es gibt aber auch Orte, die unabhängig von konkreten Erlebnissen für einen Bedeutung haben. Sie besitzen ein „nicht eingelöstes utopisches Potential der Vergangenheit, dass es für die Gegenwart zu retten gilt“ (Benjamin):
verwunschene orte, die von einem wachgeküsst werden können und somit wieder zum leben erweckt werden, Überbleibseln der ,Welt' wie z. B. Reste von Benennungen (Straßennamen, Volksmund . . .). Da vermischen sich vergessene, verdrängte und verschwommene Geschichten, die durch diese Überbleibseln quasi entzündet, zu neuem Leben erweckt werden. Das Ergebnis ist eine collageartige Geschichte (Improvisationen), deren Zusammenhänge nicht bewusst gemacht werden und ein symbolisches Ganzes bilden.

Durch die Besetzung des Ortes mit individueller Bedeutung befreit sich das Ich (Selbst) an solchen Orten von dessen Geschichten und wird auf sich selbst zurückgeworfen:
„Raum und Zeit werden in dieser Vorstellung zu elastischen Größen, das Selbst erhält darin eine Chance, sich zu materialisieren, indem seine Sinnlichkeit die Reize, die sie empfängt, experimentierend zu Bildern seiner selbst auswertet."

- 4. Phase: Abschwächung der Verbundenheit mit dem Weg bzw. den Schwellen, Reizlosigkeit – Alltäglichkeit. Die Trennung von Ort und Ich löst sich auf: Eins-werden. (Das ist eine These, weil sie über das hinausgeht, was die Wahrnehmungspsychologie zur Beziehung von Person und Umwelt sagt)

Die collageartigen Ortsgeschichten(-träume?) sind nicht fix, sie unterliegen einer ständigen Bearbeitung, und irgendwann kann ihr Ursprung auch nicht mehr rekonstruiert werden. Je mehr die eigene Umgebung einem vertraut wird, je öfter man dort ist / vorbeigeht /-fährt, desto weniger nimmt man sie wahr und desto mehr dringt sie in einen ein: mit jedem Mal sinkt sie tiefer ab.

Die verschiedenen Orte an unseren alltäglichen Wegen sind so sehr in uns, dass wir sie gar nicht mehr registrieren. Auf diese Weise schleicht sich unsere Umgebung klammheimlich in uns hinein, ohne das wir sie bewusst aufnehmen. Ich glaube, dass diese Wege so mit einem selbst verschlungen sind – quasi eine dritte Haut, eine zweite Kleidung darstellen –, dass sie keinen Einfluss mehr ausüben: sie sind in ,Fleisch und Blut' übergegangen. Wir sehen den Ort weder in seinen gegenständlichen noch in seinen symbolhaften Äußerungen. Wir haben uns tatsächlich vom Ort losgemacht, wir sehen nichts mehr:

Die Gefangennahme durch den Ort ist beendet – er gibt uns wieder frei.

Das hat ursächlich mit dem Akt des Gehens zu tun. Denn Gehen heißt immer auch Vorübergehen. Wer in Bewegung bleibt – und nie innehält –, der verpasst den Ort, der ist nirgends:

„Auf seinen besten Gängen vermochte er zu fühlen, dass er nirgends war. Und
das war letzten Endes alles, was er je verlangte: Nirgends zu sein.“

Dieses unbewusste Einverleiben der Orte, dieses Nirgends-sein führt zu Gedankenlosigkeit / Unkonzentriertheit (oder: Bewusstlosigkeit?). Man ist imstande, der Verpflichtung zu Denken zu entgehen. Die Gedanken sind nicht mehr auf die einen umgebende Realität gerichtet, eben weil sie einem bekannt und selbstverständlich ist. Die Gegenwart des Ortes reißt einen buchstäblich aus der bloßen Realität heraus. Mit schlafwandlerischer Sicherheit laufen wir unsere Wege entlang. Wir vergessen dabei nicht nur den realen Ort, sondern auch die reale Zeit. Es vermischen sich die Zeiten, Erinnerungen werden wachgerufen, Zukünftiges und
Unverarbeitetes bedrängen einen, man führt fiktive Dialoge, bruchstückhafte Szenen entstehen und überlagern sich mit anderen.

Und selten können wir uns an das erinnern, was wir beim Gehen auf unseren alltäglichen Wegen gedacht haben.
Das Gehen auf vertrauten Wegen (ver-)führt zum Träumen.
Es sind jene raren Momente, wo wir nicht in Anspruch genommen sind von
Arbeit, uns nicht mit Informationsverarbeitung beschäftigen müssen, nicht
konzentriert eine Sache verfolgen.: Zeit der Entspannung, des Abdriftens, wo
man endlich nichts zu tun hat. (vgl. Zugfahren)

Nur ist es nicht der Tagtraum des Flaneurs, der ja abhängig ist von der Stadt, von der Information, die er zu neuen Wirklichkeiten verarbeitet – der also schwer am Arbeiten ist, sondern eher der Nachttraum des Schläfers, in dem nach- und hervorgeholt wird, was bei Tag keinen Platz in unserer Welt hat.Von Peter Arlt / geb. 1960 in Linz / Soziologe / lebt in Berlin / forscht und projektiert im öffentlichen Raum

Ausschnitt eines Vortrags aus dem Jahr 2000, gehalten im Stadtgeschichtlichen Museum Weißensee, Berlin

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