27/11/2005
27/11/2005

Fragmente einer ganz normalen Kleinstadt!? von Gottfried Prasenc

Aus der Ferne kündigt sich die Stadt durch eine Kirchturmspitze an, die aus der Ebene herausragt und somit das bei der Stadtgründung motivierte Konzept „des sich Versteckens“ obsolet macht.
Der Wagen kratzt eine lang gezogene Kurve, welche sich in einer Mischung aus Gestrüpp und Wald versteckt hält. Unvermittelt gleitet man an der roten hohen Backsteinmauer, die in einem breiten mit ein wenig Wasser führenden Graben sitzend sich im Zickzack entlang der Straße schlängelt, vorbei.
Eine auf die Festung zuführende Pappelallee schneidet sich in die flache Landschaft. Davor ein monumental angelegter Friedhof.
Zwei, drei Gewerbebauten auf der rechten und eine Ansammlung von den in der Gegend häufig präsenten Schrebergärten auf der linken Seite dominieren die kurze Wegstrecke vor der Brücke, an deren rechter Seite zwei ruinöse Bauten den Brückenkopf bilden. Sonst viel Grün und Gelb von den Blättern der Pappeln und Rot von den wiederkehrenden Backsteinmauern.
Ich habe jedoch kaum Zeit diesem Beachtung zu schenken. Sofort nach der Brücke führt die Straße in einer scharfen unübersichtlichen Kurve um den Brückenkopf, um wenige Meter danach unmittelbar nach einer Linkskurve die rote Backsteinmauer zu durchbrechen.
Ich bin angekommen – wieder einmal irgendwie einfach reingefallen.

Am nächsten Morgen treffe ich Zuzana.
„Was magst du an dieser Stadt?“
„Das Grün rundherum, die Ruhe.
Obwohl - es könnte mehr an Aktivitäten geboten werden. Kein Kino, kein Bad, kein Jugendzentrum, wenig Sportmöglichkeiten, nur 3-4 mehr schlechte als rechte Kneipen.
Obwohl – ich möchte eigentlich nicht woanders leben.“
„Wieso schafft man nicht von selbst aus mehr und annehmbare Restaurants in einer 2000-Einwohnerstadt mit zeitweise doppelt so vielen Tagestouristen?“
„Weiß nicht - vielleicht haben die Einheimischen es in der kurzen Zeit nach der Wende noch nicht gelernt sich auf die eigenen Beine zu stellen. Früher hat das Militär für sie das Denken und die Organisation übernommen. Die Leute hier haben fast ausschließlich vom Handel mit dem Militär gelebt.“
„Wenn du sagst einheimisch: Bist du hier geboren?“
„Wie fast alle in dieser Stadt bin ich eigentlich nicht von hier. Allerdings bin ich schon als Kleinkind hergekommen und somit hier aufgewachsen.“
„Und wie geht es dir mit diesen im Raster angelegten Straßen, mit dieser rigiden Architektur?“
„Wie gesagt, ich bin hier auf- und reingewachsen. Insofern war dies nie ein Thema für mich. Weiß aber, dass hinzugezogene Nachbarn und Freunde anfänglich große Probleme damit hatten, sich mit der Zeit jedoch daran gewöhnten. Größeres Problem habe ich damit, dass so vieles leer steht. Es gibt kaum Geld, dies alles herzurichten. Es wäre toll, wenn wieder Leben in die Stadt käme. Aber an all diese großen Pläne, die hier aufgestellt werden, glaube ich nicht.“
„Aber diese Stadt ist doch was besonders und deren Geschichte wichtig für den Staat, glaubst du nicht? Da wird die Europäische Union doch auch finanzielle Hilfe beisteuern?“
„Ja, es reden alle. Aber ich glaube, dass die lokalen Politiker mehr in die eigene Tasche arbeiten, und der EU unsere Stadt eigentlich egal ist. Zumindest sind bisher alle großen Versprechungen im Sand verlaufen. Darüber hinaus kann man hier wenig machen, die Denkmalpflege erlaubt fast nichts.“
„Was meinst du damit?“
„Die Denkmalpflege schreibt uns bei den Wohnungen die Farbe, die Türen, die Fenster in den Fassaden vor. Nicht mal die Innenräume dürfen verändert werden. Was will man dann schon Großartiges mit den Kasernen machen?“
„Wenn du könntest, würdest du die alten Kasernen lieber wegreißen, und durch neue zeitgerechte Gebäude ersetzen?“
„Nein, denn dann wäre es nicht mehr Terezin.“
„Sag mal, wie kann man eigentlich in dieser Stadt leben? Sieht man nicht immer wieder die Geister?“

Nach Beendigung des Gesprächs begebe ich mich zur Internationalen Konferenz „Terezin im dritten Jahrtausend“, zu der ich eingeladen bin. Schon im Jahre 1997 gab es eine solche Konferenz zur Stadt- und Regionalentwicklung in Terezin, einer Kleinstadt nördlich von Prag.

Terezin ist bei uns besser bekannt unter dem Namen Theresienstadt und hat seit der Wende ein für die Stadt neues Problem.
Sie ist leer – irgendwie.

Die Stadt hat eine ganz eigene Atmosphäre. Man stößt hier an jeder Ecke auf Widersprüchlichkeiten und Gegensätze. Diese bremsen und sind dennoch das Potential der Stadt.
Einerseits die weitgehend intakte Festungsarchitektur aus dem 18.Jhd., teilweise romantische, teilweise harte Bausubstanz. Das Raster der Straßen, die Wucherungen der Wallmauern.
Andererseits die Geschichte des Holocausts. Das Leben heute.

Die Stadt ist im Typus der Idealstadt erbaut - aus einem Guss, dessen Patina die wenigen in der sozialistischen Zeit implantierten Gebäude aufgesogen hat. Diese Patina und die leer stehenden Kasernen verleihen der Stadt eine Morbidität, aber auch die Lust an einer abenteuerlichen Raumaneignung.
Das Ideal entspricht hier der Ordnung und dem Prinzip des Innen und Außen. Es ist ausgerichtet auf die Aufnahme von militärischen Strukturen, welche bis zu den 90ern auch durchgehend in dieser Stadt Platz gefunden haben. Die Plätze, die Kasernen, die Straßen – alles ist hier in der Erfüllung von Repräsentation überdimensioniert.
Brutal und schön zugleich.
Es ist eine Stadt der kurzen Wege, deren Prinzip dennoch nicht aufgeht. Weil hier auch der kürzeste Weg Langatmigkeit in sich tragen kann.
Die Stadt, die für 7000 Menschen erbaut wurde, ist heute nach dem Abbau der Militärbestände in der Wendezeit Anfang der 90er Jahre und der daraus resultierenden wirtschaftlich bedingten Abwanderung der Händler Lebensraum für knapp 2000 Menschen.
Zurückgeblieben ist damals eine ältere und ärmliche Bevölkerungsstruktur, im Versuch eine Identität im Zwiespalt der Erinnerung an das in Theresienstadt installiert gewesene jüdische Ghetto, dessen Gedächtniskörper von der Bevölkerung nun bewohnt und benutzt wird, einerseits, der k & k – Nostalgie und einem in der Erbauungsdatierung verorteten Denkmalschutz, andererseits, aufzubauen.
Identität ist hier (aber wo auch nicht) eine ganz schwer zu erfassende Frage.
Genauso wie die Bilder der Stadt erscheint die Geschichte des Ghettos Theresienstadt, das ein Durchgangslager zu den Vernichtungslagern im Osten war, im ersten Moment widersprüchlich. Es hat hier ein derart reichhaltiges kulturelles und geistiges Schaffen der Häftlinge gegeben, dass man meinen könnte, es wäre die damalige Kunst- und Kulturhauptstadt Europas gewesen.
Die Stadt spielte jedoch eine bedeutende und zynische Propagandarolle, als eine Art Vorzeigelager, in der nationalsozialistischen Massenvernichtungsmaschinerie des Holocausts. Die Umstände die dazu führten sind linear nur ganz schwer zu verstehen, vielmehr erfordern sie eine ausgedehnte Spurensuche.
Jedenfalls steht Terezin dadurch nicht nur für Trauer, Mahnung sondern auch Hoffnung und für Lebenskultur.

Darüber hinaus hat die Stadt neben der monarchischen und der Holocaustgeschichte noch mehr Erinnerung zu tragen: Das Internierungslager für Sudentendeutsche, die Wiederansiedlung – besser gesagt Stadtneugründung - nach dem 2 Weltkrieg, die tschechoslowakische Armee, die Wende mit all den nachfolgenden Gegenreflexen gegen alles Sozialistische, und vor allem das im Stadtbild und im Stadtgespräch noch immer sehr präsente Hochwasser aus dem Jahre 2002 – alles eine Geschichte für sich.

Die Festungsanlage Terezin besteht aus der Kasernenstadt, und der Kleinen Festung, in welcher im 2. Weltkrieg das Gestapogefängnis für den tschechoslowakischen Widerstand installiert war und insofern ein nationaler Identitätsträger des sozialistischen Staates als auch der heutigen Republik ist. In dieser Kleinen Festung befindet sich auch der Sitz der Gedenkstätte. Dort hat man im Sommer eine Besucherauslastung von bis zu 2000 Personen am Tag. Im in der Stadt situierten Ghetto-Museum, welches erst nach der Wende installiert worden ist, mittlerweile die Hälfte davon. Bei diesen Besuchern handelt es sich hauptsächlich um Tagestouristen, die einen kurzen Bildungsausflug von Prag aus nach Terezin unternehmen.

Die Stadt ist nun schon seit einiger Zeit bemüht, durch die Schaffung von weiterem Angebot die Besucher länger in der Region zu halten, aber vor allem auch Touristen wegen der Festungsarchitektur nach Terezin zu locken.
Ein Entwicklungsplan mit dem Titel „Terezin into Europe“ sieht vor, Terezin in den kommenden Jahren als ein Kultur- und Treffzentrum vor allem aber als Universitätsstadt auszubauen, und so wieder neues Leben in die von der Armee verlassenen Räume zu bringen.

Innerhalb dieses komplexen Gefüges von Geschichte, Möglichkeiten und Ist-situationen als auch der unterschiedlichen Motivationen und Präferenzen der jeweiligen dort sesshaften Institutionen ist es äußerst schwierig, ein Konzept zu entwickeln in dessen Rahmen eine lebendige Erinnerungskultur, ebenso wie eine Stadtentwicklung hin zu mehr Prosperität voranschreiten kann.

Die Fülle der Probleme machen es der Stadtverwaltung natürlich schwer alle zu befriedigen.
Gießkannenprinzip oder Durchpeitschen von radikaler Vision – oder doch nur Blockaden?
Verdammt! Stadtentwicklung ist so schwierig! Debatten um Erinnerungsarchitektur so polemisch!

Als ich den Konferenzsaal betrete, sehe ich die wenigen selben Gesichter, die schon die letzten 10 Jahre in Terezin ein- und auslaufen. Alles redlich bemühte Personen aus der Umgebung und dem nahen Deutschland, aber keine Fachleute (na ja, der Bürgermeister aus Oswiecim ist da).
Ich sehe auch keine hohen Vertreter des Staates bzw. der Europäischen Union, wie sie im ersten Programmentwurf angekündigt waren. (Tja, wieder keine fixen Geldzusagen für ???)

Als bei der Konferenz der Punkt Bürgerbeteiligung und –einbindung auf der Tagesordnung stand, hatten die hohen Vertreter der Stadt besseres zu tun, als anwesend zu sein. Sie kamen erst wieder als ein Vertreter einer technischen Firma eine Stunde lang ein neues Produkt vorstellte. Irgendeine Folie für die Instandhaltung und besseren Feuchtigkeitsschutz, mit der man mit Leichtigkeit die gesamten alten Mauern der Stadt überziehen kann.

„Ja, es gab mal eine kurze Zeit, als ich die Geister gesehen habe. Aber ich kann mich nicht dauernd auf die Suche nach Ihnen machen. Ich muss auch leben, meine Probleme und den Alltag bewältigen. Für mich ist es eine ganz normale Kleinstadt“, meint Zuzanna.

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