01/10/2006
01/10/2006

Arch. DI Bernhard Hafner

sonnTAG 148

Von der Provinz, Intraprovinz, Zentren und der Avantgarde - Bernhard Hafner

Provinz und Provinzialismus sind gemeinhin negative besetzte Begriffe. Man assoziiert damit ein Wohlfühl-Eingebettetsein in nicht in Frage gestellte Werte, zugleich Rückständigkeit, Beschränktheit von Ausblick und Anspruch, Verhaftetsein in Tradition und Konvention und die mangelnde Bereitschaft, Neues, vom Gewohnten Abweichendes, anzunehmen. Die Verhältnisse von Macht und Ansehen sind geordnet. Dazu gehört auch eine hierarchische Verteilung sozialer Rollen. Diese Interpretation eines geordneten, politischen Zusammenlebens dient weitgehend dem Selbstschutz provinzieller Eliten als halböffentlichen, weitgehend geschlossenen Vereinen mit latent vorhandenen Statuten.

In dieser provinziellen Weltordnung ist der Provinzler ein Hill-Billy, einer, der aus den Wäldern kommt, ohne zu wissen, daß es eine weite Welt gibt und der sich, wenn er es erfährt, mit dem Wald begnügt. Beengtheit ist ihm Heimat. Sie läßt ihm genug Luft zum Atmen, wenn er sich seinen Platz in der sozialen Ordnung gesichert hat. Meist aber sorgt das System auch dafür: der Platz geht vom Vater auf den Sohn über. Rangkämpfe gibt es wenige: gesicherte, unumstrittene Verhältnisse sind das Kapital der Provinz. Aber es gibt sie, die geheimen Wünsche: des Gendarms, der Kommandant sein möchte; des Lehrers, der sich als Direktor sieht; des Gemeinderats, der träumt, Bürgermeister zu sein. Keine Aussicht, den Wunsch erfüllt zu bekommen. Die Erfüllung obliegt Strukturen der Macht und des Ansehens, die in Personen manifest werden wie Sporenträger eines Myzels, sie liegt nicht im Ermessen des Einzelnen. Nachfolgen sind geregelt, Aufstiegschancen werden intern verwaltet. Daraus Ausbrechen bedeutet Abwandern. Gerade die geheimen Wünsche und nicht erfüllte Erwartungen Einzelner sind das grausamste, was die Provinz hervorbringen kann. Dazu bedarf es eines Anstoßes von außen, eines Demagogen, der all jenen Erfüllung verspricht, deren Selbstwert mehr verlangt, als geboten wird. Es sind Versprechungen, die die Provinz zur Brutstätte machen, in der die gesicherte Ordnung auf den Kopf gestellt wird. So traut, wie sie sich gibt, ist die Provinz nicht.
Die Provinz bedarf eines Zentrums: Provinz ist alles außerhalb Roms. Wer will schon in den Alpen leben, wenn er in Rom sein kann?

Das Zentrum ist sozusagen das Gegenteil von Provinz. Es saugt. Es erzeugt Fliehkraft in der Peripherie, die es «Provinz» nennt. Es ist diese Kraft, die das Zentrum in einem ständig wirksamen Prozeß verändert: das Provinzielle richtet sich im Zentrum ein. Alles wird potentiell in Unordnung gebracht, denn der, der die Wohlordnung der Provinz verläßt, ist ein Unzufriedener, ist wißbegierig und ambitioniert, eine Art Revoluzzer, der sich sagt «ich breche aus Eurem wohlgeordneten, erstarrten Gemeinwesen aus, in dem jeder jeden und seine Rolle kennt«. Er sucht im Zentrum, das, was ihm in der Provinz versagt bleibt. Vielleicht sind es Ruhm, Erfolg, Anerkennung, eine Position, ein besseres Leben, vielleicht aber auch nur Anonymität. Auf diese Weise wird sozusagen alles Provinz. Das Zentrum ist nur eine besondere unter vielen. Es ein Zentrum mit Provinzen, von Provinzen in Bewegung, ein Bereich, in dem sich das Provinzielle in Schichten, die sich als Eliten sehen, verdichtet. Nennen wir diese innerstädtischen Provinzen Intraprovinzen. Sie wenden wohl ein, Bewegung und Beharren seien ein Widerspruch. Sehen wir doch dieses Eindringen von außen als Eindringen in bestimmte Gesellschaftsstrukturen, die im Zentrum «Stadt« vielfältig und komplex sind, wo sie in der Provinz «Dorf« einfach sind, zu einer übersichtlichen Ordnung sich überlagern. Die Bewegung wird erst im Ablauf der Zeit manifest, in Zeitschnitt, sozusagen. In dem gegen Null gehenden Zeitfortschritt ist alles in jeder dieser Strukturen festgefügt erstarrt, ist jede davon eine eigene Provinz. Das Wissen um die Möglichkeit der Zustands­änderung ist zwar vorhanden, doch in diesem Moment ist alles klar geordnet, sind die Positionen verteilt, ist die Rangordnung so eindeutig wie sie nur sein kann. Bald schon, ist alles wieder auf Eindringen, Umsturz und Abwehr ausgerichtet. Eine klare Machtverteilung einzurichten erfordert enorme soziale Energie, sie zu verteidigen und sie zu überwerfen ebenfalls. Da gibt es die Intraprovinz der Beamten, die die geordnetste ist: die Ränge sind besetzt, die Hierarchie perfekt, der Aufstieg von Rang zu höherem Rang ist vorherbestimmt, wenn es, wie es bei allem, bei dem es um Macht geht, auch Störungen gibt wie sie ein Steinwurf auf der Oberfläche eines stillen Sees erzeugt. Es gibt den Machtbereich der Intraprovinz des Gewerkschaftsbundes und der katholischen Kirche, beide ähnlich, mit unterschiedlichem Zeithorizont, geordnet. Der „Bürgermeister der Gewerkschafter“ sitzt im Penthaus der Innenstadt, das Mitglied im Gemeindebau; der „Bürgermeister der Katholiken“ zelebriert in der Bischofskirche, der Katholik wohnt auf Knien bei. Es gibt die Intraprovinz der Wissenschaften, der Finanzen, der Techniker, der Journalisten und der Künstler, mit den Unterbereichen von Malern, Musikern und Literaten. All das muß wohl bestellt und sein und auf Machterhalt gerichtet sein. Die Positionslichter weisen es aus, denn bei allem geht es um Position: nicht was du bist ist entscheidend, sondern welche Position du hast; ein ewiges Motto des Alten Europa. Überall hier ist Provinz, eine eigen Provinz, die man sich nach Interessenslage eingerichtet hat, ist Wohlfühl-Eingebettet­sein in nicht in Frage gestellte Werte, zugleich Beschränktheit von Ausblick und Anspruch, Verhaftetsein in Tradition und Konvention, Beharrungsvermögen und die Abwehr der Änderung des Status quo. Die Verhältnisse von Macht und Ansehen sollen im Augenblick des Stillstehens der Zeit so sein, wie sie es sind. Die Barbaren aber, zu denen man einst selbst gehörte, kommen oder lauern schon und wollen den Status ändern. Das Machtgefüge soll bleiben, die Personen aber können individuell ausgewechselt werden, und, wenn sie sich einmal eingeordnet und eingenistet haben, müssen auch sie neue Eindringlinge abwehren im ewigen Spiel um Dominanz. Wenn es um Macht geht, ist man sicherer im Alpendorf als in Rom, aber auch in Rom kann man sich ein Alpendorf schaffen, in dem sich das Provinzielle in Schichten zu Eliten verdichtet.

Auch im Zeitalter der Welt als global village bleibt Rom Rom. Wer will schon in einem Alpendorf statt in Rom leben? Aber all das ist relativ: Will er es, weil er länger leben will? Aber was hat er von einem Leben da draußen, in der Provinz? Was hat er von Rom, wenn er befürchten muß, das Schwert im Bauch zu haben? Was hat er von Istanbul, wenn ihm vielleicht die seidene Schnur die Luft nimmt? Im Alpendorf lebt sich’s länger. In Rom ist jemand zwar Kaiser, im Alpendorf ist man immerhin Bürgermeister, Gouverneur einer eigenen Provinz. Ist man Kopf oder wenigsten Mitglied einer Elite. Das kann man auch in Rom sein, wenn man sich seine Intraprovinz einrichtet oder sich ihr anschließen kann, ohne darüber hinaus gehende Ambitionen zu haben, denn Ambitionen können todbringend sein. Mit einer Position lebt sich’s gut in der Hierarchie.

«Der Staat bin ich». Das ist das Motto des Provinzialismus. Selbstgefälligkeit, Selbstgerechtigkeit, in kleinem Kreis geteilte Selbstsucht und Dünkel sind das Fundament. Wir haben die Nase am Arsch der Zeit und stellen nichts in Frage außer das, was uns in Frage stellt. Die Provinz hat Rom erobert. Um es mit Giuseppe Potazzi zu sagen: „Rom ist Rom und wir sind wir“. Das gilt nun in Rom wie draußen vor den Toren. Im Zentrum überlagert der fade Geruch des Arrivismus den Anspruch auf den Hauch der weiten Welt. Laßt sie draußen mit Prügeln kämpfen, wir führen die feine, virtuelle Klinge. Offen auftreten, wenn man hinter dem Rücken gewaltlos gewinnen kann?

Wenn sich die Erkenntnis einmal durchgesetzt hat, daß im Zentrum die eigene Rolle zwar gefährdet ist, man mit mittelfristig gewährter Macht gut leben kann, in der Provinz wohl gesichert aber karg und in engem Horizont, ist es die Aufgabe des Zentrums, seine Anziehungskraft zu bewahren und ambitionierten Zuwanderern sozusagen bezirkübergreifende Provinzen als neue Heimstätten anzubieten. Das Konstrukt Zentrum - Provinz ist, um mit den Worten der Postmoderne zu sprechen, dekonstruiert. Eine Art von Provinz ist bald überall, besonders aber im Zentrum. Das macht es Außenseitern in der rundherum-Provinz leichter, Avantgarde zu sein als im Zentrum. Aber wo auch immer, die Avantgarde braucht die Provinz sozusagen als Sprungbrett und braucht die Konzentration auf ihr geistiges Anliegen. Was sie nicht brauchen kann, ist Kräfte mit der Abwehr von Angriffen auf sich und ihre Ziele verwenden zu müssen im Kampf zwischen Pragmatisierungsperioden oder im Wirkungsfeld von Intrigen und Propellergeräuschen.

Die Avantgarde bildet keine Provinz oder, um es mit anderen Worten zu sagen: sie bildet kein provinzielles Umfeld. Die Avantgarde? Wenn wir von Personen einer Avantgarde in einem Mehrheitsbegriff subsumieren, dann machen wir es uns bequem oder tun es a posteriori, in dem wir eigenständige, voneinander unabhängige, eventuell in Freundschaft oder durch ein ähnliches Ziel miteinander verkehrende Persönlichkeiten durch Pidgeonholing zu einer Gruppe zusammenfassen - wir pressen jede davon ohne ihr wirklich Gerechtigkeit zuteil werden zu lassen in einen von Kulturmanagern, Kunsthistorikern oder Journalisten gezimmerten Taubenschlag. Sagt etwa einer zum anderen: ich bin, Du bist, wir sind Avantgarde? Dem Avantgardisten ist die Avantgarde ziemlich gleichgültig. Er lehnt sich gegen Vereinnahmungen dessen, was eher ein unkoordiniertes, als Ganzes ungelenktes Sammelsurium von Einzelkräften ist, nicht auf, weil er seine Kräfte für sich selbst braucht aber vielleicht auch, weil die Gruppe mehr Macht haben kann als der Einzelne (er ist dann sozusagen ein prozentueller Avantgardist). Meint jemand wirklich, El Lissitzky habe sich morgens im Spiegel gesehen und gesagt: schau! Ich bin ein Konstruktivist (Tatlin, Menikov; Ich verwende das Beispiel des (russischen) Konstruktivismus hier vor allem, weil ich, in einer Zeit zunehmender Erinnerungslosigkeit, auf diese «Avantgarde« und die schamlose Ausnützung dieses Ausdrucks durch den Dekonstruktivismus, aufmerksam machen will[1]).

Jeder bezieht für sich und für sich allein Position gegen die Kulturtradition der Zeit und findet zum anderen durch Gemeinsamkeiten oder tut es auch nicht. Andere: Kulturhistoriker, Kunstgeschichtler, Galleristen sehen darin mehr als die Avantgardisten selbst. Schauen Sie sich um, dann finden sie mehr Zeichen der Abgrenzung des einen vom anderen als Hinweise auf das Miteinander und Einigkeit. Der Avantgardist ist allein und hat möglicherweise und wohl nur für kurze Zeit Freunde, mit denen er etwas teilen kann, bis eine neue Avantgarde ausgerufen wird, in der mitlaufende Spreu von reifenden Weizen getrennt wird und Avantgardisten von vorher Geschichte werden.

Anziehungskraft ist nicht gleich Anziehungskraft. Ihre Größe entscheidet, ob sich im Zentrum Provinzen etablieren können, wie wir es oben darstellten. Dies hat auch mit dem Staatswesen zu tun, in dem sie wirkt. Der Sog internationaler Zentren reicht über das nationale Umland hinaus, wenn politische Barrieren dies nicht verhindern. Der aufkommende Nationalismus etwa hat einige davon geschwächt: Indem sich in einem übernationalen Staatengefüge nationale Subzentren auf Kosten eines wie ein Schirmherr funktionierenden Zentrums politisch befreiten, wurde dieses entmachtet. Wien ist das Beispiel dafür. In ihm hatten sich vor Zusammenbruch der Monarchie nationale Gruppen innerstädtische Provinzen als Minderheitenbereiche gebildet. Diese gingen in der Folge im nationalen Brei des Österreichertums auf, während die Unterwanderung der Stadt aus der österreichischen Provinz zunahm. Bei der nun ausbleibenden über- und zwischenstaatlichen Konkurrenz konnten sich Gruppen etablieren, die den Anspruch erhoben, Eliten zu sein. Auf dem europäischen Kontinent ist, unter günstigeren politischen Bedingungen und weniger starren, ständestaatlichen Strukturen, Paris als übernational wirkendes, geistig-kulturelles Zentrum übriggeblieben. Wien zehrte noch bis zur Selbstaufgabe in der Umarmung des Nazitums von seiner Vergangenheit. London ist dem Schicksal Wiens entronnen. Es war und ist in Großbritannien als Zentrum noch unangefochtener als es Wien in Österreich-Ungarn war, hatte seine Größe aber aus den interkontinentalen wirtschaftlichen Verflechtungen des Britischen Imperiums gewonnen, das eher allmählich an Bedeutung verlor statt so jäh zu enden wie Österreich-Ungarn, und hatte im Wirtschaftsbündnis des Commonwealth und der kurios anmutenden Form von Monarchie Kontinuität bewahrt. London profitierte, zweitens, durch die führende Rolle in Wirtschaft, Forschung und Technologie der USA vom Aufstieg des Englischen zur Weltsprache. Im Gegensatz zu Paris, das auch nach der Teilung Europas durch den Faschismus und, später, durch den Eisernen Vorhang, seinen Rang als Zentrum für Intellektuelle, für Künstler, Literaten und Philosophen erhalten hat, ist London eher eine Wirtschaftszentrum: des Kapitalismus, der Wirtschaftswissenschaft und einer transatlantischen und transpazifischen Börse. London lebt von seiner Anziehungskraft im englischen Sprach- und Wirtschaftsraum, Paris von Anspruch und Verpflichtung das Zentrum einer sich zur Größe verpflichtenden Nation zu sein und Gegenpol zu anglo-amerikanischer Dominanz auf fast allen Gebieten. Hatte es in den fünfziger Jahren noch Nordafrika als Hinterland seiner sowohl kulturellen als auch wirtschaftlichen Interessen und Erfahrungen, und übte es in der Nachkriegszeit immer noch Faszination beispielsweise auf Amerikaner aus, so blieb ihm bis heute der Selbstwert und die Frankophonie: Schließlich waren auch die Emigration aus Spanien und Katalonien unter Francos Okkupation weggefallen. Paris ist mehr denn je auf sich angewiesen und auf die Bereitschaft ihrer politischen Führer, sich kulturelle Denkmäler zu setzen, während das restliche Europa in kulturelle Mittelmäßigkeit, Saturiertheit und Verwaltung als Politikersatz absinkt. Aber wie die Unruhen letzten Jahres zeigen, hatte sich durch die koloniale Vergangenheit auch in Paris eine Provinz mit Außenseitern der Gesellschaft eingerichtet, die keinen Anspruch erheben konnte, Elite zu sein.

Wien und Berlin brachten sich auf diesem internationalen Niveau durch politische Unfähigkeit aus dem Spiel, Madrid durch den Faschismus, der den zweiten Weltkrieg noch lange überlebte. Es hatte die Chance, das transatlantische Zentrum des Spanisch sprechenden Amerika zu sein, durch ein ähnlich reaktionäres politisches Leitbild, wie es Österreich-Ungarn hatte, langfristig nie wahrnehmen können.

Alle anderen europäischen Zentren sind nationaler Art, ohne große Bedeutung darüber hinaus, Nährböden eines sich an der nationalen Provinz bereichernden Klüngels und Claquentums. Dazu gehört der Dünkel, der mit übergroßer nationaler Bedeutung einhergeht. Es sind dies Hauptstädte, die national weitgehend konkurrenzlos sind: Wien, Budapest, Prag, die skandinavischen und baltischen Hauptstädte. Ohne die Tradition sparsamer Haushaltung, wie sie in anglo-amerikanischen Demokratien zum Grundkonsens gehört, und mit der hochherrschaftlichen Ausgabenpolitik katholischer Länder fest verankert, gebiert Konkurrenzlosigkeit Korruption. Rom hat in Mailand einen Konkurrenten, der der Hauptstadt im Bereich von Wirtschaft und zeitgenössischer Kultur überlegen ist; darüber hinaus gibt es die griechische Stadtgründung Neapel im Süden, Palermo als Zentrum außerparlamentarischer Macht und Städte von Venezien, der Emilia-Romagna und der Toskana als Kultur oder Wirtschaftszentren: «Rom ist Rom und wir sind wir. Rom lebt von einer entfernten Vergangenheit wie Wien von einer näheren und mit einem Verwaltungsapparat, der der Größe des Landes angemessener ist als jener in Wien: man vergleiche das Wiener Rathaus (dessen einziger Konkurrent an architektonischer Häßlichkeit der Urturm von Graz ist) mit dem Kapitol in Rom. Protzen vs. Größe. Madrid hat in großen Provinzstädten Konkurrenten, vor allem in Barcelona. Paris hat sie, neben Bordeaux und Lyon, in Marseille», das als Schnittstelle zu Nordafrika gelitten hat. Zusätzlich zum neuerlich hochgepuschten Berlin – dessen es nicht der Ansiedlung der politischen Staatsmacht bedurfte – gibt es die Zentren Hamburg, Frankfurt und München (wie schön könnte doch Köln sein, wäre es besser wieder aufgebaut worden). Warschau hat in Krakau, Breslau und Danzig Partner im Potenzial der Anziehungskräfte. London, Wien, Budapest und Prag aber sind völlig konkurrenzlos: Brutstätten ambitionierten Provinzialismus, wozu auch das konkurrenzlose Aufsaugen nationalen Kapitals gehört. Solche Städte geradezu usurpatorischer Bedeutung schaden langfristig mehr als sie einem Land nützen, wenn es im Falle Wiens auch keinen Ausweg zu geben scheint: Welche Alternative kann es geben, solange Wien zu Graz oder Linz das ist was Graz zu Eibiswald? (Letzteres merkt man an der Kopie der gefärbelten Häuser Eibiswalds in Graz, wovon Wien glücklicherweise der Tradition einer ehemaligen Weltstadt wegen verschont blieb. Wien hat den Anspruch gehalten, Graz sich nach unten orientiert.)

Zentren, die Ressourcen in hohem Maße binden, sind der politischen Entwicklung eines Landes abträglich. An einem Ort gebündelte, formalisierte Strukturen politischen, wirtschaftlichen und geistigen Einflusses erhalten durch Beharrungsvermögen ihre Macht. Zu viel steht für Etablierte auf dem Spiel, wenn sich daran etwas änderte. Dagegen ist das Land hilflos: it is out-financed, out-smarted. Der Klüngel von Intraprovinzen führt das Wort. Ihr glücklichen Niederlande: Ihr wähltet das (kleine) Den Haag zur Hauptstadt, förderten es als Sitz internationaler Gerichtsbarkeit und ließet damit Amsterdam und dem aufstrebenden Rotterdam ihren eigenen Rang; einen Rang, den sich Mailand, Marseille oder Barcelona erarbeiten müssen.

Anders als im Alten Europa sind neuere Staaten einen anderen Weg gegangen. Ihre Hauptstädte sind politische Wesen. Sie sind neu geschaffene Regierungssitze und spielen im kulturellen und wirtschaftlichen Leben eine untergeordnete Rolle. Dies ist gut für diese Länder, deren Brust sich zum Atmen heben und senken kann anstatt ständig den Druck eines schweren Blocks zu spüren. Washington, Canberra, Brasilia und Pretoria sind solche Zentren. Die Führungsrollen aber haben, die Bundespolitik ausgenommen, New York City, Los Angeles und Chicago; Sydney, Brisbane und Melbourne; Sao Paulo und Rio; Johannesburg und Kapstadt. Deutschland hatte nach der Wiedervereinigung die große Chance, aus dem alteuropäischen Muster auszubrechen und Bonn als Regierungssitz zu belassen oder einen neuen etwa nahe der ehemals innerdeutschen Grenze zu schaffen. Es hat die Gelegenheit der Machtentflechtung vertan: Berlin wäre, auch ohne Regierungssitz zu werden, aufgeblüht. Österreich hat die Chance nicht: alles, was in dieser Richtung unternommen werden könnte, rührt am Rang Wiens und scheitert an Perseveration und Erbe. Eine kleine Chance gebe es: Der Bundespräsident möge im Rhythmus von etwa zwei Jahren seine Amtsgeschäfte abwechselnd in einer der Landeshauptstädte ausüben. Diese können zwar mit Großmachtallüren ausdrückenden Semperschen Bauten nicht aufwarten, aber welche Stadt kann das schon, zumal im Sinn der Angemessenheit für ein kleines Land? Fast alles kann reisen, auch die Wiener Philharmoniker, der Staatsräson wegen.

Welchen Sinn haben Intra-Provinzen in Canberra, Brasilia, Pretoria? Wer wollte schon Teil davon sein, wenn es nichts zu profitieren gibt, da alles in den Bevölkerungszentren schon vorhanden ist? Washington ist nur bedingt eine Ausnahme, denn seine politischen Eliten sind temporärer Natur; werden bei Wahlen ausgetauscht. Was wird in den parteipolitischen Erbfolgen in Europa gewechselt? Wenn eine Person ausgetauscht werden sollte, welchen Unterschied machte es, wenn er oder sie ohne Partei nichts ist? Die Fackel nationaler Macht wird weitergereicht und sich überschätzende, bundeshauptstädtische Eliten achten auf die Erbfolge in ähnlicher, wenn auch weniger fundamentalistischen und in einer vom Wähler beeinflußbaren Weise. Alles Provinz, alles Provinz. Vom Morbus W befallen.

Wen wundert es, daß es in diesem geistigen Umfeld keine Avantgarden gibt? Avantgarden entstehe durch Personen, die Wut haben, besessen sind, hungrig statt satt, das Leben als Risiko sehen statt als Pragmatisierungserlebnis, die in diesem Umfeld in Ihrer Tätigkeit aber auch einen Sinn sehen statt im Kampf um Abwehr und falsche Vereinnahmung aufgerieben werden zu können. Ein Lebensziel haben, das nichts mit Sicherheit, Geld, «Position« und Macht zu tun hat. Der wirkliche Avantgardist ist kein Marktschreier, er bracht die Kraft für anderes als lautstarke Beteuerung seiner Bedeutung. Er ist auch kein Arschkriecher.

In den Jahren vor seinem Tod traf ich manchmal Hanns Koren im Stadtpark, unweit vom Ort, wo jetzt sein Denkmal steht, auf dem Weg zum oder vom Büro. Als Verfasser einer Kritik eines Wettbewerbs hatte ich bei ihm vor 40 Jahren als Fürsprecher für die Sieger vorgesprochen. Er war damals Landeskulturreferent und war nun Landtagspräsident. Er kannte meinen Werdegang und war mir gegenüber wohl deshalb so offen. Eines Tages blieb er stehen und sagte: «Wissen Sie, ich habe die Möglichkeiten, die Macht bietet, unterschätzt«. Als Landtagspräsident ohne Macht? Er hatte, als es bereits zu spät war, erkannt, daß man als aufgeklärter Mensch selbst Macht haben mußte, um etwas gegen die Intraprovinz ausrichten zu können. Die Strukturen realer Macht liegen hinter den Strukturen demokratischen Scheins und dem intraprovinziellen Netz von Positionslichtern.

Ich dachte, im global village könnte der Ort, an dem man vom Provinziellen unbeeinträchtigt leben kann, überall sein. Aber die Provinz hat mich eingeholt. Sie ist rachsüchtig: wer nicht für sie ist, ist gegen sie. Kann man sich durch einen Brief davon befreien? Ist geistige Distanz genug, wenn das Leben gefangen ist?

„Lieber Mozart,

ich muß gestehen, ich habe mich wirklich lange nicht mehr gemeldet. Sollte ich Dich verletzt haben, so laß mich Dir den Grund erklären: Du warst nicht mehr chic genug. In dem Intellektuellenmilieu wissensdurstiger junger Wölfe, angehender Philosophen und künftiger Geisteswissenschaftler, in dem ich mich bewegte, innerhalb einer Gruppe, die eifrig Konzerte zeitgenössischer Musik besuchte, wo man nur vom Sprengen traditioneller Formen spricht, vom Verzicht auf Tonalität, von Brüchen, von Revolution und von einer neuen musikalischen Grammatik, kurzum, in dieser Heerschar von Avantgardisten zu erklären »Ich liebe Mozart« war irgendwie unpassend. Sicher, ich hätte Dir heimlich die Treue halten können; aber ich habe dem Druck nachgegeben. Da ich dazugehören wollte, unterwarf ich mich dem ideologischen Konformismus, ich hatte nicht den Mut, ich zu sein, und strich Dich daher lieber feige aus meinem Repertoire. Verzeih mir, ich war dem Snobismus erlegen.“[2]

Wer vermag sein Leben durch Briefe an Mozart der Einvernahme durch den Geist der Intraprovinz zu entziehen? Diese weiß sich im Wissen, die Lacher auf ihrer Seite zu haben, auch mit Rüpelhaftigkeit zu wehren. Die Handschuhe werden ausgezogen: »Halt die Goschn«. Goschn halten und mitmachen, nicht auf Distanz bleiben, nichts dagegen sagen: der Arrivierte ist dem Snobismus erlegen. Duckmäusertum als willkommene Eigenschaft in der Provinz, denn »der Staat bin ich«.

Das Provinzielle reckt sich; ist wie ein Virus. Vogelgrippe? Provinzialismusschnupfen! Es flüchtet in Avantgarde Festivals, in denen Künstler, Polyartisten, Kultur- und Wertemacher, die örtlich kaum jemand kennt, es sei denn, man hat andere Avantgarde Festivals besucht, als internationale Größen ausgegeben werden. Die örtlichen Positionsträger können sich selbst für einige Zeit international fühlen, in ein Netzwerk eingebunden. Sie sind es nicht, sie werden nur für eine Station eines Wanderzirkus benützt. Das ist etwas Neues: eine Provinz auf Rädern.[1] Diesen bezeichne ich deshalb „De(kon)struktivismus“. Sh. „Which Wave? Ein Ausflugin die Postmodern“, in Bernhard Hafner: „Architektur und sozialer Raum Aufsätze und Gespräche über Architektur und die Stadt“, LV, 2002. N 3-85409-361-6

[2] Zitiert aus Eric-Emmanuel Schmitt, „Mein Leben mit Mozart“, Amann Verlag 2005. ISBN 3-250-60085-7. Aus dem Französischen „Ma vie avec Mozart“.

ANMERKUNG DER REDAKTION:
Der Text gelangte im Rahmen von auszeit - Hanns-Koren-Bedenkjahr 2006 zur Veröffentlichung. Das Land Steiermark nimmt den 100. Geburtstag Hanns Korens zum Anlass eines „Bedenkjahres“. Unter dem aus dem Sport entlehnten Titel „auszeit“ wird einerseits die Zeit reflektiert, in der Hanns Koren die Kulturpolitik des Landes gestaltete, andererseits werden, ausgehend von seiner Haltung, seinen Ideen und Initiativen, Projekte entwickelt, die Gegenwart und Zukunft der Kultur in der Steiermark thematisieren.
Die Ergebnisse bzw. Zwischenergebnisse der Projekte werden vor dem 100. Geburtstag Hanns Korens am 20. November 2006 vorgestellt. An diesem Tag selbst wird der Hanns-Koren-Kulturpreis des Landes Steiermark überreichtKURZBIOGRAFIE:
BERNHARD HAFNER wurde 1940 in Graz geboren. Er studierte an der Technischen Universität Graz und an der Harvard University. Hafner war Professor und Gastprofessor an der University of California, Los Angeles (bis 1974), Cornell University (1974), University of Texas, Arlington (UTA, 1977-79) und am New Jersey Institute of Technology (2000, 2005). Er ist seit 1976 als freischaffender Architekt tätig und betreibt seit 1980 ein Architekturbüro in Graz. Außerdem ist er Verfasser zahlreicher wissenschaftlicher Arbeiten und theoretischer Texte zur Architektur.

Verfasser/in:
Bernhard Hafner
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