03/12/2006
03/12/2006

Im Rahmen der Kinder- und Jugendworkshops in Oberwölz und Deutschlandsberg, veranstaltet im Frühjahr 2006 von der Literaturwerkstatt Graz, entstanden zahlreiche Geschichten zum Thema "Meine Stadt"......

sonnTAG 157

Im März und April 2006 haben sich 13 Jugendliche im Alter von 8 bis 14 Jahren in zwei Literatur-Workshops in Oberwölz und Deutschlandsberg mit ihrem Lebensumfeld auseinandergesetzt. Zum Thema "Meine Stadt" sind Geschichten entstanden, die einen Einblick in die Gedanken-, Wunsch- und Fantasiewelten von Jugendlichen geben.
GAT veröffentlicht nun, mit freundlicher Genehmigung der Literaturwerkstatt Graz, an vier aufeinander folgenden sonnTAGen eine kleine Auswahl.
Das Buch mit den gesammelten Geschichten, die im September 2006 von den jungen AutorInnen im Literaturhaus Graz gelesen wurden, erhalten Sie im Kinderbüro Steiermark oder bei der Jugend-Literaturwerkstatt Graz (siehe LINK am Ende dieser Seite)."Parkleben" - Marie Gamillscheg, 14 Jahre

Ich öffnete das Fenster, schob den Vorhang beiseite und schnupperte die Stadtluft. Herrlich. Es roch nach Abgasen und abgestandener Luft, nach Straßendreck und Autoreifen, doch ich liebte es. Nichts lieber als das wollte ich erleben. Seufzend lehnte ich mich an das Fenster und versuchte zu hören, was die Leute sprachen. Unser Haus grenzte gleich an einen Park, dazwischen war nur noch eine Straße. Ich hörte ein kleines Mädchen, das erbarmungslos schrie und zwischendurch solche Worte wie „Ich will nicht“ oder „Nein“ verlauten ließ.
Dann kam eine andere Stimme dazu, sie klang sehr energisch und schimpfte streng mit der Kleinen: „Jetzt sei einmal leise, mit dir muss man sich ja wirklich genieren“, meinte sie, worauf das Protestschreien nun in ein jämmerliches Weinen überging.
Die Stimmen wurden leiser, wahrscheinlich waren sie nun schon hinter der Hausecke verschwunden. Nur sehr leise hörte sie zwei Stimmen von der anderen Straßenseite, sie müssten genau vor dem Parktor stehen.
„Ich liebe dich“, meinte die eine Stimme zärtlich mit einem so liebevollen Unterton, dass ich gerührt lächelte. „Ich dich auch, mein Schatz“, meinte eine etwas tiefere Männerstimme ebenfalls. Dann setzten die Stimmen aus und ich hörte nichts mehr.
Ich spürte die letzten Sonnenstrahlen des Tages, die gerade noch meinen Nacken und Hinterkopf angenehm wärmten, wie gerne wäre ich jetzt auch im Park spazieren gegangen.
Dann lehnte ich mich zurück und tastete nach dem kleinen Tischchen, das normalerweise immer neben dem Stuhl am Fenster stand. Schließlich hatte ich ihn gefunden und suchte nun die Uhr, welche darauf platziert war. Ich ertastete das eckige Gerät und drückte auf den Knopf, der darauf angebracht war. „18:47“, verkündete eine elektronische Stimme.
Mich wunderte, das meine Mutter noch nicht vom Einkaufen zurückgekehrt war, denn ich hatte schon Hunger und wollte sie eigentlich noch überreden, dass sie mit mir schnell noch in den Park hinüber ging.
Das „schnell“ war in unserem Haus ein relativ dehnbarer Begriff. Für mich war etwas, dass man in nur einer halben Stunde erledigen konnte, auch schon schnell, meine Mutter verstand schnell nur unter fünf Minuten. „Alles eine Sache des Blickwinkels“, dachte ich und stütze mich wieder am Fensterrahmen ab. „Wobei Blickwinkel auch wieder nur theoretisch zu sehen ist“, ich lächelte verbittert und schloss die Augen, um mich noch etwas sonnen zu lassen.
Ich war nämlich blind, ist dazuzusagen. Und zwar nicht seit einem tragischen Unfall oder einer Krankheit, sondern schon seit meiner Geburt, wobei ich nicht weiß, ob ich das als gut deuten soll oder nicht. Natürlich bin ich froh, dass ich keinen Unfall oder so hatte, aber andererseits hatte einer dann wenigstens einmal die Stadt, in der er lebt und seine Umwelt gesehen. Ich hatte nie irgendetwas gesehen. Den Park, die Lage unseres Hauses und die Stadt kannte ich nur aus Erzählungen meiner Mutter.
Wie gerne würde ich, wie andere in meinem Alter nachmittags einfach hinausgehen und eine Freundin besuchen, einkaufen gehen oder einfach allein spazieren gehen und die Natur genießen. Und zwar ganz allein, ohne irgendjemand anderen.
Wenn ich spazieren ging, dann nur in Begleitung meiner Mutter und dem Stock, den ich vor einigen Jahren bekam. Eigentlich war der Sinn des Stocks ja der, dass ich alleine spazieren gehen konnte, doch meine Mutter hatte mir strikt verboten, mich alleine aus dem Haus zu bewegen. Sie hatte zu viel Angst, dass mir etwas passieren könnte.
Ein plötzliches Rumpeln an der Tür ließ mich zusammenschrecken. „Hallo, Tilla!“, rief meine Mutter unnd kam in die Wohnung. „Hallo“, meinte auch ich und wendete mich wieder zum Fenster. „Mama, können wir heute noch spazieren gehen?“ fragte ich sie, während sie hinter mir raschelte, wahrscheinlich packte sie gerade ihre Einkäufe aus. „Wenn du willst“, murmelte sie. „Machen wir das noch schnell vor dem Abendessen.“
Zufrieden streckte ich meine Hand wieder hinaus, doch ich spürte die Sonne nicht mehr, sie war anscheinend schon untergegangen.
TeilnehmerInnen der Workshops in Oberwölz und Deutschlandsberg waren:

Lena Bodner, 14 Jahre, Graz
Sigrid Ehrenreich, 14 Jahre, Stübing
Marie Gamillscheg, 14 Jahre, Graz
Antonia Kranzelbinder, 9 Jahre, Edelschrott
Lorenz Müller, 13 Jahre, Markt Hartmannsdorf
Leonora Peuerböck, 13 Jahre, Graz
Valentina Pock, 13 Jahre, Graz
Julia Schöggl, 9 Jahre, Graz
Valerie-Therese Taus, 12 Jahre, Graz
Viktoria Urbanek, 13 Jahre, Leoben
Alexandra Weinberger, 14 Jahre, Mürzhofen
Sarah Melanie Zechner, 10 Jahre, Oberweg (Judenburg)
Iris Christina Zechner, 12 Jahre, Oberweg (Judenburg)

Werkstattleitung, Betreuung:
Martin Ohrt (Graz)
Miroslava Valentová (Bratislava)
Naa D¸ubur (Leibnitz)

Verfasser/in:
Marie Gamillscheg, 14 Jahre
Netzwerktreffen
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