22/11/2009
22/11/2009

Günter Eichberger
ÜBER DIE SKELETTBRÜCKE
oder
Mauern, sprachlos und kalt

Grenzübertritt

Die Abfertigung dauert heute wieder einmal besonders lang. Millimeterweise schieben wir uns im Standbildtempo vorwärts. Wir sehen den Zöllner altern, ein Jüngling war er doch noch, als wir ihn zum ersten Mal seinen Dienst versehen sahen, ein paar Zentimeter näher war er ein Herr mit respektablem Schnauzbart, dann ein graumelierter zärtlicher Großvater mit ruhigen Bewegungen, schließlich, die Reihe ist an uns, ein starr blickender Greis, der Unverständliches murmelt und uns mit einer resignierenden Geste passieren lässt.
Dieses Land ist einem kahlen Kopf vergleichbar. Oder einem zerschlissenen Kleidungsstück. Oder einem geplatzten Scheck.
Sofortige Umkehr ist der erste Wunsch. Abscheu auf den ersten Blick. Rückkehr, schleunigste Rückkehr, rufen wir aus, ein Irrtum diese Einreise.
Aber schon empfängt uns der Sturm, umarmt uns mit eisernem Klammergriff, hebt uns hoch und lässt uns fallen. Da sitzen wir nun und wissen nicht, wie den nächsten Angriff, der unweigerlich kommen wird, parieren. Flucht ist die beste Verteidigung. Das ist ein wahrer Satz. Er hat die Qualität eines Sprichworts. Und wir vertrauen doch immer auf Sprüche. Liegt doch ein Zauber drin.
Nur den Sturm können wir damit nicht beeindrucken. Auf den Flügeln seines Geheuls flattern wir unwillig als störrische Flugschüler durch eine fremde Luftlandschaft. In Sturm und Braus lebt es sich unbehaglich, die Sorge um den tadellos gezogenen Scheitel wird von der Sorge um das nackte Leben überlagert, die Ahnung von einem aus der Tiefe unvorhergesehen pilzartig aufschießenden Felsklotz macht sich ungebeten breit, ein unfreundlich zum Zerschellen einladender Granitapfel...
Da öffnet der Sturm seine edelmetallene Faust, fallschirmlos sacken wir naturgesetzmäßig in einer leicht errechenbaren Fallgeschwindigkeit ab. Den Grenzbalken als Trampolin benutzend, katapultieren wir uns erleichtert an den Ausgangspunkt zurück.

Weltuntergangslotto

Wir kampieren im Grenzland. Unsere genaue Lage wissen wir nicht zu bestimmen, da unser Kompass im Sturm seine Nadel verloren hat. Am Lagerfeuer wärmen wir unsere Finger und denken an den Weltenbrand. Wir gedenken, Wetten über den Weltuntergang abzuschließen, wir haben eine genaue, sicherlich zu- und eintreffende Vorstellung davon, die wir vor Jahren notiert, in ein Kuvert verschlossen und an einem geheimen Ort deponiert haben. Wetten, die wir gewinnen werden, deren Gewinn jedoch mit Verlust gleichzusetzen ist.
Wir starren unverwandt ins Feuer. Über das Feuer springen, durch das Feuer schreiten, eine Handvoll Feuer einstecken, sie bei passender Gelegenheit hervorholen, ein Lagerfeuer verschlucken, es Ahnungslosen unter vorgetäuschter Vertraulichkeit ins Ohr blasen, mit Feuersbrünsten so lange spielen, bis man selbst zur Flamme wird, die Erdkugel an den abgeplatteten Polen in Brand stecken und gelassen mitverbrennen.
Mit Fackeln leuchten wir durch die Nacht. Nebel möchten wir sein und alles umarmen oder gleich die Nacht, dann hätten wir Raum und Zeit genug.

Explosive Bodenfrüchte

Einen Minenhund! Ein Königreich für einen Minenhund! Bei unseren Grenzspaziergängen käme uns ein vierbeiniger Spezialist für explosive Bodenfrüchte sehr gelegen. Witterte er auch noch unmenschlich präzise Selbstschussanlagen hundert Meter außerhalb ihrer Reichweite, würde er immer Futter in seinem Napf finden.
Ein Grenzgang bietet mehr als Nervenkitzel, an den zarten oder stählernen Nervenfäden wird gezupft oder gerissen. Man nähert sich geräuschlos auf Filzfußlappen, der Puls trommelt, der Schweiß entspringt als Rinnsal, wird zum murmelnden Quell, zum munteren Fluss, zum reißenden Strom, schlussendlich wird er sich ins Meer stürzen, ein wässriges Rätsel allen heimischen Kartographen, die in Nachtschichten einen neugeborenen Fluss einzuzeichnen haben, für den sie in eilig einberufenen Konferenzen erst einen möglichst treffenden Namen finden müssen. Doch dies kümmert fiebrige Grenzenstürmer vernachlässigbar wenig, alle körperlichen, geistigen und übersinnlichen Kräfte sind ganz auf das betont illegale Unternehmen konzentriert. Eine Tarnkappe wäre uns das, was einem dürstenden Wüstentrotter ein Trunk ordinären Wassers ist.
Routiniert robben wir über das frisch gepflügte Minenfeld. Das Wort Obacht turnt auf sämtlichen Synapsen. Nun eine stacheldrahtgespickte Mauer, wie wir sie von ungezählten Grenzübertritten kennen. Die Grenzstacheldrahtbeißzange, ein eigenhändig gefertigtes Einzelstück, tut verschwiegen ihre Pflicht. Sicherheitshalber lesen wir in unserem Handbuch nach, was nun zu tun:
Man besteige sein Steckenpferd, die Fassadenkletterei, und überspringe hoch zu Ross das steinerne Hindernis. Etwaigen Gewehrkugeln weiche man besser aus. Ohne Aufsehen oder Publizität dringe man auf den kürzesten Wegen ins bergende Landesinnere vor. Im Todesfall entfallen alle Vorsichtsmaßnahmen.

Geständnis

Über die knöcherne Brücke gehe ich allein. Der Mais steht hoch. Rot ist er vom Blut der Bauern. Gut gedüngt von ihren toten Leibern. Als dürres Blatt fällt mein Mantel von mir ab. Ich muss weiter, immer weiter, meinem Glück hinterher; kein Wunder, dass ich vom Glück nur die Kehrseite kenne. Durch Hochsprungakrobatik bin ich meinen Schatten losgeworden, eine Zeitlang hing er mir noch an den Fersen, dann dehnte er sich immer mehr, wurde schmäler und schmäler, bis er riss. Achtlos ließ ich ihn liegen, mag er auch Wegelagerern in die schmierigen Hände gefallen sein, ich bedurfte seiner Begleitung nicht länger.
Über die knöcherne Brücke gehe ich allein. Ich trage das missing link in einer schlichten Goldkette um den Hals. In früheren Zeiten wollte ich es einem Bettler schenken, um meinen Hofstaat von meiner Unzurechnungsfähigkeit zu überzeugen. Aber in meinem Reich gibt es keine Bettler mehr. Was nicht an meiner Großzügigkeit liegt...
Ich habe meine Söhne verstoßen und meine Töchter gefreit, ich habe das königliche Erbe meines Vaters in ländlichen Gasthöfen und städtischen Freudenhäusern verprasst, ohne rechten Genuss zu empfinden, ich war an Orten zugange, die gottesfürchtige Menschen aus gutem Grund meiden, ich habe meine Mutter als Hexe denunziert, sie als oberster Inquisitor der grausamsten Verhörsfolter unterzogen und die erste Kerze an ihren Scheiterhaufen gehalten, ich habe meine gesamte Verwandtschaft teeren, federn und rädern lassen, meinen großen Bruder machte ich wissentlich mit einem Werwolf bekannt, meine kleine Schwester verkaufte ich um einen Hohnlohn an einen einschlägig vorbestraften Mädchenhändler, ich habe meine Freunde stets verraten und auf die schiefe Achterbahn gebracht, ich habe meine Freundinnen mit Scherben von eingeschlagenen Kirchenfenstern dilettantisch tätowiert, ich habe meiner großen Liebe das mir geschenkte Herz bei lebendigem Leibe aus dem Brustkorb gebrochen und es achtlos in eine stinkende Lagune geworfen, ich habe mein Volk zum kollektiven Suizid gezwungen und dann nach und nach alles Leben in meinem Sonnensystem vernichtet, alles, bis auf eines...
Über die knöcherne Brücke gehe ich allein. Ich rechtfertige mich nicht, ich klage mich auch nicht an. Ich habe nur meine Pflicht getan. Meine Pflicht war es, bedingungslos meinen Neigungen zu folgen. Schon als Kind, als nachsichtig belächelter Zweitgeborener, dem Thron und Krone verwehrt schienen, stieß ich mich an Grenzen wund. Grenzen, die man mir setzte, Grenzen, die unverrückbar schienen. Mit jeder Narbe wuchs mein Hass, bis ich in der Blüte meiner gerechten Bösartigkeit alle Grenzen, die mich bedrängten, niederriss...
Über die Skelettbrücke, das Hauptwerk meines Hofarchitekten, dessen Schädel diesen Makaberbau krönt, gehe ich allein. Ich hatte so gehofft, dass mich das große Sterben, die Seuche, die ich ausgelöst habe, besänftigen werde. Aber auch die Allgegenwart des Todes ist kein Trost. Immer stärker empfinde ich meinen eigenen Körper als Grenze, die es zu überschreiten gilt, wenn ich für einen Atemzug lang frei sein will. Freiheit den Eingeweiden, Freiheit dem Gebein. Kraftvoll aus der Haut fahrend, sehe ich alles rot. Diese lodernde Flamme, das wird wohl mein Bewusstsein sein...

Günter Eichberger, geboren 1959 in Oberzeiring/Stmk., lebt als freier Schriftsteller in Graz. Neben Theaterstücken und Hörspielen veröffentlichte er eine Reihe von Prosabänden; zuletzt erschien "Alias" im Ritter Verlag, Klagenfurt.

Verfasser/in:
Günter Eichberger
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