27/12/2009
27/12/2009

Norden, aus dem der Tod kommt

Eingang zum Tanzdeck. Fotos: Caroline Kleindienst

Blick über das berühmte Tanzdeck nach Süden

Mountain Home Indoor Studio

Beginn des Waldwegs, der tief in das Anwesen zu einer Gruppe von Redwoods führt

Indoorstudio und Eingang zur darunter liegenden Lodge

Pfad, der vom Haupteingang zum Mountain Home Studio führt

Pfad, der vom Haupteingang zum Mountain Home Studio führt

CAROLINE KLEINDIENST
Anna und Lawrence Halprins Mountain Home Studio, Kentfield, Kalifornien, USA

„How diverse we all are. How diverse all those shapes are. What a miracle we are able to communicate with each other at all.”
Anna Halprin

Dreißig Minuten nördlich von San Franciscos Golden Gate Bridge liegt der Ort Kentfield, Heimat des Mountain Home Studios der Tanzpionierin Anna Halprin. Eine schmale Straße windet sich hinauf zum Studio, das sich am Hang eines von Redwoods bewachsenen Berges befindet. Von hier aus sieht man das Mount Tamalpais Naturschutzgebiet und Mount Tamalpais, die Pazifikküste der Marin Headlands. Muir Woods und Muir Beach befinden sich in unmittelbarer Nähe. Mount Tamalpais ist unter anderem bekannt aus der Mythologie der hier ansässigen amerikanischen Ureinwohner, die Geschichten über eine schlafende Prinzessin, ersichtlich in der Form des Berges, erzählten. Es hieß, die Prinzessin würde erst von ihrem Schlaf erwachen, wenn alle Bewohner, die am Fuße des Berges leben, aus ihrem Schlaf der Sinne erwachen.

Das Mountain Home Studio ist ein besonderer Ort, ein anderer Ort. Mit dem Zurücklassen der Straße und dem Betreten des Eingangstores, von dem hölzerne Stufen steil abwärts zum Studio führen, verändert sich meine Wahrnehmung. Die Bretter der Stiege sind uneben, jeder Schritt erfordert Konzentration. Es erinnert an eine Prozession, wenn die Studenten zum Studio hinabsteigen und beim Betreten des Pfades still werden, sie sehen den Pfad als Vorbereitung für die Klassen. Die sonst gewohnte Welt unserer Gedankenstrudel soll draußen vor dem Tor bleiben. Keine Gedanken an Einkaufslisten, private oder berufliche Herausforderungen, an Zukunft oder Vergangenheit. Hier auf dem Weg zählt nur der Rhythmus des Atmens, das Ertasten der Stufen – langsam und konzentriert, um nicht auszurutschen. Die Füße werden aktiviert und verursachen im ganzen Körper eine angenehme Wärme. Unten in der Lounge, die vom mexikanischen Künstler Alex Flores gestaltet wurde, angekommen, ist Platz, um sich umzuziehen, Habseligkeiten zu verstauen, etwas Tee zu trinken und Kollegen und Freunde zu begrüßen. Um zum berühmten Tanzdeck oder ins Studio zu gelangen, muss die Lounge auf der anderen Seite wieder verlassen und eine Stiege hinaufgegangen werden.

Die Geschichte des Studios beginnt 1948, als Anna Halprins Ehemann, der Landschaftsarchitekt Lawrence Halprin, gemeinsam mit Architekt Lauterer das Tanzdeck, ein Outdoorstudio in unmittelbarer Nähe des Halprin-Wohnhauses, kreierte. Zu dieser Zeit hatte das Ehepaar zwei kleine Kinder. Das Deck neben dem Haus sollte es Anna erleichtern, von zu Hause aus zu arbeiten und nicht auf ein Studio im weiter entfernten San Francisco angewiesen zu sein. So tanzte Anna vorerst alleine, bereitete Stücke und Ideen auf dem Deck vor. Bald folgten ihre Kinder und oft deren Freunde, die Anna gerne in die Welt der Bewegung und des Körperausdrucks einführte. Nicht lange ließen die Performer des von Anna Halprin initiiertem San Francisco Dancers‘ Workshop auf sich warten und folgten ins Mountain Home Tanzdeck in Kentfield. Anna gründete den San Francisco Dancers‘ Workshop, um neue, experimentelle Formen des Ausdrucks durch Bewegung zu finden und die Tänzer von den begrenzten Formen des Modern Dance und anderen Tanzstilen zu befreien. Persönliches Befinden und Emotionen sollten als Ressource in die Bewegung integriert werden. Der Bau eines Tanzdecks sollte ein architektonisch herausforderndes und teures Indoorstudio an diesem steilen, waldigen Hang umgehen und in die natürliche Umgebung integriert werden. So entstand ein Tanzraum, der in verschiedene zentrale und dezentrale Ebenen unterteilt und mit niedrigen Bänken als Sitzgelegenheiten bei Aufführungen ausgestattet ist. Anna und die Performer des San Francisco Dancers‘ Workshop sahen durch die für sie neuartige Form eines Tanzraumes die einengenden Formen eines herkömmlichen Studios aufgelöst sowie das Element der Natur hinzugefügt, was zugleich ein Fehlen an Kontrolle, Vorhersehbarkeit und Berechnung in der neuen Form ihrer Bewegungen widerspiegelte.

Gearbeitet wurde bei jedem Wetter und auch heute können Studenten so manchem Herbstregen nicht widerstehen, dem haptischen Gefühl des Wassers, das müde Füße und andere Körperteile erwachen lässt, dem Klatschen des Regens auf der Haut, dem Duft der Bäume und ihren eigenen Bewegungen und Biegungen, die dem Wind antworten. In Lawrence Halprins Deck werden symbolisch die vier Himmelsrichtungen thematisiert. Im Süden, aus dem „das Leben kommt“, sichtbar durch die Baumkronen, liegt die San Francisco Bay, die Küste des Meeres, von wo früher die Menschen aus aller Welt mit Schiffen kamen. Heute kommen sie bevorzugt mit Flugzeugen. Im Norden, aus dem „der Tod kommt“, sieht man einen Hang mit blühenden Obstbäumen. Erzählungen nach wuchsen diese wild, höchstwahrscheinlich verbreitet von Eichhörnchen, Rehen, Hirschen, Kojoten, Waschbären und anderen Tieren, die bevorzugt in diesen Wäldern leben. Die Obstbäume stehen zur Erinnerung an die Verstorbenen. Im Osten, aus dem „das Licht kommt“, führt ein Pfad tief in den Wald zu einer Gruppe von uralten Redwoods und abgestorbenen Baumstämmen aus früheren Zeiten. Dieser Platz wird genützt für persönliche Reflexionen, für Stille und Momente, in denen neue Ideen geboren werden. Im Westen des Tanzdecks, aus dem „das Leben geht“, sieht man den mächtigen Berg Tamalpais, der den Blick zum Ozean verdeckt. Dieser symbolisiert das Unbekannte, woher wir kommen und wohin wir gehen. Leben und Tod sind letztendlich miteinander verbunden, und Zeit und Raum existieren im immer wiederkehrenden Rhythmus, ohne Anfang und Ende. Anfangs reagieren manche Studenten eingeschüchtert, wenn sie die Liste der Namen der Menschen hören, die regelmäßig auf dem Deck getanzt, gearbeitet und gelebt haben, allen voran natürlich Anna und Lawrence Halprin. John Graham, Trisha Brown, Meredith Monk, Yvonne Rainer, A.A. Leath und viel andere waren Mitglieder des frühen Dancers‘ Workshop und starteten ihre Karrieren hier. Merce Cunningham, John Cage, Min Tanaka, Terry Riley, LaMonte Young, Robert Morris, Tony Martin, James Broughton, Michael McClure und Ruth Beckford, die die erste ausschließlich schwarze Tanzcompanie in den USA leitete, traten hier auf, experimentierten, nutzten das Tanzdeck als Inspiration. Auch ganzheitliche Heiler wie Don Jose Mitsuwa aus dem mexikanischen Huichol-Stamm, der im Alter von 109 Jahren hier sein Wissen weitergab, besuchten das Halprin-Tanzdeck. Genauso wie Dr. Joseph Henderson, der mit C.G. Jung arbeitete, und der in den USA als legendärer Psychoanalytiker in der Tradition Jungs bekannt war. Die Zusammenarbeit mit Menschen wie Fritz Perls, dem Begründer der Gestalttherapie, bestärkte Anna Halprin, die 1951 mit der Diagnose Krebs konfrontiert wurde, einen Ausdruck, ein Ritual zu entwickeln, das ihre Selbstheilungskräfte stärkte und sie letztendlich von ihrer Krankheit heilte. Nach dieser Konfrontation mit dem eigenen Tod, dem Gefühl, an der Kippe ihres Lebens zu stehen, versuchte Anna, diese Erfahrung und die Rituale, die zu ihrer Heilung führten, mit ihren Mitmenschen zu teilen, das Bewusstsein für Gemeinschaft zu stärken sowie im weiteren Kontext mit Tanzstücken, Performances und Workshops politisch zu intervenieren. Auch arbeitet sie seither mit Menschen, die an Krebs, Aids oder anderen schweren Krankheiten leiden. Die heute 89-Jährige gründete 1978 gemeinsam mit ihrer Tochter Daria – Psychologin, Tänzerin und Schauspielerin – das Institut Tamalpa, das bewegungsorientierte Kunsttherapie lehrt, die Integration von psychologischen Aspekten in den kreativen Prozess sowie kinestätisches Bewusstsein, Bewegungstherapie, Tanz, bildende Kunst und Schauspiel unterrichtet. Jährlich werden nationale und internationale Studenten von Programmen des Instituts angezogen. Lawrence Halprins Mountain Home Studio ist heute Bühne und Ort für Klassen, Workshops und Trainingsprogramme. Anna Halprin selbst steigt (oder tanzt) trotz ihres hohen Alters immer noch mindestens zweimal pro Woche von ihrem Haus am Hang über dem Studio herab, um zu unterrichten. Die meisten Klassen beginnen im geschützten Indoorstudio, das 1950 als Erweiterung des Tanzdecks zugefügt wurde, und verlagern sich je nach Wetterlage und Arbeitsthema aufs Deck, auf die Sitzbänke, in den Wald oder wohin immer Anna Halprin ihre Studenten am besten in ihrer experimentellen Erfahrung unterstützen kann. Das Studio sollte als Weiterführung des Decks verstanden werden und so viel Verbindung wie möglich zur Natur erhalten. Eine Reihe von großen Fenstern öffnet die Aussicht des Studios in Richtung Wald, Glasschiebetüren grenzen es vom Deck ab. Ein kleineres, zweites Deck, das erneut den Blick auf Mount Tamalpais in seiner Schönheit freigibt, wurde westlich errichtet. Ich vergleiche das Studio gerne mit einem Adlernest, das geschützt in den Kronen der Redwoods schwebt. Um den Kontakt zur Erde nicht völlig zu verlieren, steht die Farbe der Studiowände, die vom Designer Gerald Reis ausgewählt wurde, im Zeichen der Erde, Geheizt wird mit einer Fußbodenheizung, die besonders an kühleren Tagen die Bewegungsübungen am Boden angenehm macht und die Entspannung der Muskeln unterstützt.

Der Life-Art-Prozess steht im Zentrum der Vision von Lawrence and Anna Halprin. Wie können wir eine Brücke bilden zwischen Kunst und Leben? Wie können wir die Kunst in das tägliche Leben integrieren, sie für uns und die Gemeinschaft, in der wir leben, nützen? Kunst, die jenseits von Beurteilungen in guten und schlechten Zeiten Bestandteil unseres täglichen Lebens sein soll. Lawrence Halprin, der ausgehend von der Natur, der Landschaftsarchitektur und inspiriert durch die Zusammenarbeit mit seiner Frau und deren Tanzgruppen mit dem Prozess des Rastlosen, sich immer Verändernden, Nicht-statischen vertraut war, versuchte eine Form des kreativen Prozesses zu definieren, die sich nicht nach Resultaten, sondern nach dem Prozess selbst orientiert. Um eine Methode der Kommunikation innerhalb des Life-Art-Prozesses zu finden, entwickelte das Ehepaar den RSVP-Zyklus (Ressource, Score, Valuaction, Performance) und den Prozess des Scorings. Diese sollen den kreativen Prozess transparent und in seiner Komplexität sichtbar machen. Alle vier Teile sind in sich selbst komplex und miteinander verbunden. Halprin fand diesen Zyklus ähnlich dem System C.G. Jungs von einem Kompass der Psyche. In Halprins System steht Ressource für menschliche und materielle Hilfsmittel und deren Motivationen und Ziele. Score beschreibt den Prozess bis zur Ausführung. Scores können stark eingegrenzt, aber auch sehr offen sein sowie geschrieben, gesprochen oder visuell. Valuaction analysiert das Resultat der Aktivitäten sowie mögliche Selektionen und Entscheidungen. Performance ist das Resultat des Scores und der „Stil“ des Prozesses. Lawrence Halprin sah in der Idee des RSVP-Zyklus neue Möglichkeiten des Gestaltens und Planens von größeren Umgebungen und Gemeinschaften, deren Natur Komplexität und deren Absicht Vielfalt ist. Sein Zyklus ist täglicher Bestandteil von Tamalpa-Klassen im Mountain Home Studio. Scores werden definiert mit der Intention, einfach Spaß zu haben oder dem Versuch, durch eine bestimmte Körperhaltung im Tanz den inneren, psychischen Prozess ins Bewusstsein zu rufen.

Lawrence Halprin starb vor wenigen Wochen, am 25. Oktober 2009, im Alter von 93 Jahren. Bis zuletzt nahm er zumindest indirekt am Geschehen der Klassen und an den Programmen im Studio teil.

TERMIN:

ANNA HALPRIN WORKSHOP IN PARIS
WANN: 16./17.01.2010, jeweils 10.00-17.00 Uhr
WO: Paris, genauer Ort wird noch bekannt gegeben
Anmeldung bis 11.01.2010 per eMail an formations@contredanse.org
www.contredanse.org

CAROLINE KLEINDIENST, geboren 1976 in Feldbach, Österreich. Absolventin der Akademie der bildenden Künste, Wien. Grassroots Art Projects seit 2005: Kunst als Werkzeug der Versöhnung in traumatisierten Gesellschaften. Derzeit Studium der bewegungsorientierten Kunsttherapie am Institut Tamalpa und bei Anna Halprin. Lebt in Seattle und bei San Francisco.

Verfasser/in:
Caroline Kleindienst
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