Die Konkurrenz der europäischen Regionen und der Kleinregionen nimmt zu, die Relevanz von nachbarschaftlichen, wirtschaftlichen und technologischen Beziehungen und der Zusammenarbeit erhöht sich, die Motorisierung des Individualverkehrs hält an, die Verschiebung von Nutzungen und der Trend zur Entmischung der Nutzungen geht weiter.

In Österreich führt die von der Statistik Austria (Hanika Alexander 2010) bis 2050 prognostizierte ungleiche Verteilung der Bevölkerungszunahme durch Zuzug aus dem Ausland weiterhin zu sterbenden Randlagen und weiteren Schrumpfungen in den schon jetzt schwachen Randregionen im Alpenraum. Im Gegensatz dazu boomen die Ballungsräume mit bis zu 20 % Wachstumsrate in den Zentren von Wien, Graz und Linz, wobei die Städte schwächer wachsen als ihr Umland.
Die Entwicklung wird geprägt von der Tatsache, dass sich Immigranten vorzugsweise in den Städten ansiedeln, während die Bevölkerung, die schon länger in den Zentren lebt, von dort an die Peripherie zieht. Das liegt wiederum an den steigenden Ansprüchen, die an das Wohnen und an die Lebensqualität gestellt werden. Prognostiziert wird eine großräumige soziale Entmischung, die bereits im Wohnungsmarkt und im öffentlichen Raum sichtbar ist.

Die gegenwärtigen Sozialisationsbedingungen vermitteln, dass wir nicht mehr in einem einheitlichen umgebenden Raum leben, sondern uns durch monofunktional genutzte Raumgliederungen bewegen. Die erlebten und benutzten Räume liegen wie Inseln über die Stadt verteilt und erhalten nur über die individuelle biographische Erfahrung einen Zusammenhang – die verinselte Vergesellschaftung (Löw, 2001). In partizipativen Prozessen im Städtebau ist es daher wesentlich, nicht nur direkte Anwohner sondern ganz allgemein die Raumnutzer zu integrieren.

Über die Komplexität von Eingriffen im räumlichen Stadtgefüge

Dem gesellschaftlichen Wandel, der in engem Kontext mit der Veränderung der Raumnutzung und dem Wandel der Stadtstruktur steht, kann durch Architektur und gezielte Stadtplanung begegnet werden. Stadtplanung bzw. Architektur hat direkten Einfluss auf die Struktur über die Gestaltung, beeinflusst die Ordnungsdimension als sichtbares Zeichen der Repräsentation und den gesellschaftlichen Kontext. Indirekt beeinflusst Architektur die Kommunikation, Lebenschancen und die sozialen Verhältnisse.

Bereits 1996 belegte der Londoner Stadtmorphologe Bill Hillier dies in seiner wissenschaftlichen Studie “Space is the machine – A configurational theory of architecture”. Die Studie beleuchtet und verdeutlicht grundlegende Wechselwirkungen zwischen Design und Benutzerverhalten und damit wie gebaute Strukturen das individuelle menschliche und in Folge das soziale Verhalten prägen. Durch ihre Form tragen sie zu den Effekten der globalen, räumlichen Konfigurationen bei, eröffnen Möglichkeiten innerhalb der drei Bestimmungsfaktoren Orientierung, Funktionalität und (gängige) Bewegungsabläufe und -muster, bilden das Verhältnis zwischen Raum und Zeit ab und zeigen sich damit als sozial bestimmte Objekte.
Der Mensch agiert damit immer im „Gesellschaftlichen Raum“ (Dangschat Jens, 1994, p. 350), in einem Raum, mit komplexen wechselseitigen Zusammenhängen zwischen dem „Sozialen Raum“ (Bourdieu Pierre, 1998) und dem materiellen, realen Raum. Städtischer Raum muss demnach als dynamisches, globales Konzept verstanden und analysiert werden.

Dadurch ist jeder Ort und jede Stadt einzigartig, spezifisch. Die verborgenen, nicht nur räumlichen Strukturen der Städte, die ortspezifisch durch meist unbewusste „präreflexive Prozesse der Sinnkonstitution (Doxa) und ihrer körperlich-kognitiven Einschreibung (Habitus)“ entstehen (Löw Martina, 2008, p. 42) – der Eigenlogik und der Eigensinn der Städte – gilt es bei Eingriffen in die Abläufe der räumlichen Planungen selektiv zu berücksichtigen.
„Die Reproduktion von Räumen erfolgt im Alltag repetitiv. Veränderungen einzelner Räume sind durch Einsicht in die Notwendigkeit, körperliches Begehren, Handlungsweisen anderer und Fremdheit möglich. Änderungen institutionalisierter Räume oder räumlicher Strukturen müssen kollektiv, mit Bezug auf die relevanten Regeln und Ressourcen erfolgen.“ ( Löw Martina, 2001, p. 272) Änderungen der gesellschaftlichen und räumlichen Praktiken erscheinen damit schwierig, denn sie unterliegen einer Trägheit der räumlichen Organisation (Friedrichs Jürgen, 1977). Diese spiegelt die oft widersprüchlichen Wünsche und Ziele der Bewohner wieder, ist geprägt durch die unterschiedlichen Interessen und zeigt damit die Komplexität der Stadt. Praktiken bergen soziale gesellschaftliche Konflikte, deren Beherrschung ein Instrument für Reproduktion und Steigerung der eigenen Macht und Position ist. Räumliche Strukturen bzw. räumliche Grenzen werden aufgrund von Machtverhältnissen innerhalb der Gesellschaft aufgebaut – dies führt dazu, dass spezifische räumliche Praktiken (Harvey David, 1994) entstehen.
Das bedeutet, die Konstitution von Raum steht in einer ständigen Wechselbeziehung zwischen Struktur, Handlungs- und Ordnungsdimension und reproduziert durch die alltägliche Wiederholung gesellschaftliche Strukturen, die wiederum in einem rekursiven Prozess auf die Konstitution von Raum Einfluss nehmen. Raum ist demnach ein gesellschaftliches Produkt und die Konstitution von Raum unterliegt einem sozialen Prozess. Damit sind Raum, Ort und Stadt in ständiger Bewegung.
Als Einzelperson erfährt man immer nur eine Momentaufnahme, einen Ausschnitt, eine Wahrheit – je nach dem eigenen individuellen Wahrgenommenen, Erfahrenen und Imaginären (Lefebvre Henri, 2004), das bedingt ist durch die Erreichbarkeit des Raumes (Entfernung), seiner Zugänglichkeit, (Möglichkeit der Aneignung und Verwendung) und zuletzt seiner Dominanz (Besitzverhältnisse), also der Herrschaft und Kontrolle über den Raum (Harvey David, 1994).

Raum und damit auch die Gesellschaft nachhaltig zu verändern, heißt in einen über Jahrzehnte andauernden gesellschaftlichen Prozess der Sozialisierung einzugreifen. Dadurch können Strukturveränderungen nur langfristig zu tragen kommen.

Partizipative Stadtentwicklung

Da auch der Planungsprozess in der Architektur und Stadtplanung an sich als dynamischer Prozess abläuft und sich innerhalb einer dynamischen (Stadt-)Struktur bewegt, sollten begleitend zur derzeit vorwiegend praktizierten strategischen Planung auch flexible, dynamische und mobile Entwicklungsprozesse ermöglicht werden. Sinnvoll wäre es, eine flexible Planungsstruktur für Städte zu entwickeln – im Sinne der Offenen Planung (Fassbinder Helga, 1996) – die auf die jeweiligen individuellen Situationen und Problemfelder der unterschiedlichen Städte, deren Unverwechselbarkeit, deren Eigensinn und Eigenlogik eingehen kann.
Offene Planung ist etwas „Weiterreichendes“: eine neue Qualität von gesellschaftlicher Regulierung mit Dialog, Entscheidung, Konsens und Vernetzung, Selbstregulierung und kommunaler Steuerung. Das heißt, die Offene Planung muss, um flexibel, demokratisch und zeiteffizient zu sein, komplett anders organisiert sein, als die bisherigen (Planungs-)Verfahren. Der wichtigste Faktor bzw. Bestandteil ist die partizipative Beteiligung der Raumnutzer. Partizipation erfolgt in Form einer prozesshaften, diskursiven Technik und ist dem statisch-hierarchischen Organisationssystem zumeist ökonomisch überlegen durch Selbstkorrektur, Innovationskraft, Selbstorganisation, bessere Kontrolle, Effektivität und Eigenverantwortlichkeit. Wesentlich ist dabei, „um über die begrenzten Erfolge netter Einzelprojekte hinauszukommen“, eine „strategische und langfristige Ausrichtung, zum Beispiel in Form einer modularen Entwicklungsstrategie, welche Erfolgsüberprüfungen und ein prozessbegleitendes Nachsteuern einschließen.“ (Marten Florian, 1997, p. 302)

Partizipative Stadtentwicklung ist ein möglicher Ansatz, ein möglicher aktiver Beitrag, den Architektur und Stadtplanung zum gegenwärtigen Diskurs in der Stadtsoziologie und Stadtplanung liefern kann. Denn Architektur, die funktioniert, ist mehr – Funktionalität nicht im Sinne der Moderne „form follows function“, sondern im Sinne der menschlichen Beziehungen: function follows social community.

Die Vorteile für eine Stadt zeigen sich langfristig und vielfältig. Partizipation in der Stadt kann zum Beispiel die Identifikation mit der Stadt stärken und damit die Auswirkungen der sozialen Polarisierung wie Segregierung, Ghettoisierung, soziale Spannungen, Konflikte bis zu „Brennpunkte“ verlangsamen. Die Grundvoraussetzung ist allerdings die Bereitschaft von Seiten der Politik und der Behörde zur verstärkten Beteiligung der Raumnutzer und ihre Weitsicht, dass positive, nachhaltige Effekte nicht schon in der aktuellen Legislaturperiode wirksam werden müssen.

Eine globale Trendumkehr der derzeitigen gesellschaftlichen Entwicklung wie der sich verstärkenden Sozialen Polarisierung zwischen Arm und Reich entzieht sich dem Handlungsspielraum von Architekten. Ihre Auswirkungen wie die sozial-räumliche Polarisierung (Segregierung bis Gated Comunities) unterliegt vielen marktwirtschaftlichen Faktoren und wird von der Stadtplanung und den Bauherren mitbestimmt. Architekten können aber helfen, die Lebensqualität im vorgegebenen Planungsfeld und damit das gebaute Umfeld zu verbessern und insbesondere eine interdisziplinäre Betrachtung der gebauten Räume nicht nur zulassen, sondern auch einfordern.

Der vorliegende Text ist die deutschsprachige Kurzfassung des aktuellen Beitrags zur internationalen interdisziplinären EURA-Conference (European Urban Research Association) „Understanding City Dynamics“, die von 24. bis 26. September 2010 an der TU Darmstadt stattfand.

Die nächste EURA-Conference erfolgt von 23. bis 25. Juni 2011 in Kopenhagen, Dänemark unter dem Titel „Cities without limits“.

Literatur

Bourdieu, Pierre, (1998): Sozialer Raum, symbolischer Raum, erschienen in: Praktische Vernunft, Zur Theorie des Handelns, pp. 13-27. In: Dünne, Jörg und Günzel, Stephan (2006): Raumtheorie, Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt am Main: Suhrkamp Taschenbuch Verlag, pp. 354-368.

Dangschat, Jens und Jörg, Blasius, Hrsg. (1994): Lebensstile in den Städten – Konzepte und Methoden, Opladen: Leske + Budrich.

Fassbinder, Helga (1996): Offene Planung als praxisorientiertes Zukunftskonzept. In: Selle, Klaus Hrsg., Planung und Kommunikation. Gestaltung von Planungsprozessen in Quartier, Stadt und Landschaft. Grundlagen, Methoden, Praxiserfahrungen, Wiesbaden, Berlin: Bauverlag, pp. 143-152.

Fassbinder, Helga (1998): Planungskompetenz - Entwurfskompetenz - Betroffenenkompetenz – Überlegungen zur Klärung verwirrender Verhältnisse. Beitrag zum Symbosium „StadtGmbH“, Österreichische Gesellschaft für Architektur Wien, 1996. In: UmBau 15/18, Wien, 1998, S.48-57.

Fezer, Jesko and Heyden, Mathias, Hrsg. (2004): Hier entsteht – Strategien partizipativer Architektur und räumlicher Aneignung, Berlin: b-books, pp.14.

Friedrichs, Jürgen (1977): Stadtanalyse – Soziale und räumliche Organisation der Gesellschaft, Reinbeck bei Hamburg: Rohwohlt Taschenbuch Verlag.

Hanika, Alexander (2010): Statistik Austria, Kleinräumige Bevölkerungsprognose für Österreich 2010-2030 mit Ausblick bis 2050 (ÖROG-Prognosen), Wien.

Harvey, David (1994): Flexible accumulation though Urbanization: Reflexion on Postmodernism in the American City. In: Ash, Armin: Post-Fordism, a reader, Bodmin: Blackwell Publishers, pp. 361-386.

Hillier, Bill (1996): Space ist he maschine – A configurational theory of architecture, New York: Cambridge University Press.

Lefèbvre, Henri (2003): Die Revolution der Städte, Dresden: Dresden Postlplatz + b_books.

Lefèbvre, Henri (2004): The production of space, Cornwall: Blackwell Publishing.

Löw, Martina (2001): Raumsoziologie, Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, pp. 260.

Löw, Martina (2008): Eigenlogische Strukturen – Differenzen zwischen Städten als konzeptuelle Herausforderung. In: Berkling, Helmuth and Löw, Martina, Hrsg.: Die Eigenlogik der Städte, Frankfurt am Main: Campus Verlag GmbH, pp. 33-53.

Löw, Martina (2008): Soziologie der Städte, Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag.

Marten, Florian (1997): Kaputt geplant – Das Elend der Raum- und Stadtplanung, Frankfurt am Main: Campus.

BIOGRAFISCHE NOTIZEN:

Petra Kickenweitz, (* 1975)
Studium der Kunstgeschichte und Diplom für Architektur an der TU Graz. Mitarbeit im Büro Revolver ZT, Graz und u.a. im Bereich der Architekturvermittlung mit Kindern und Jugendlichen.

Angelina Morhart-Harich (* 1976)
Diplom für Architektur an der TU Graz. Lebt und arbeitet in Linz bei [tp3] architekten ZT GmbH.

Katharina Wyss (* 1977)
Studium der Architektur an der TU Graz, an den Universitäten in Oulu (Finnland) und Malta, Diplom für Architektur an der TU Graz; ist zurzeit im Ruhrgebiet in der Architekturvermittlung und im Planungsbereich tätig.

Verfasser/in:
Petra Kickenweitz, Angelina Morhart-Harich, Katharina Wyss
Netzwerktreffen
16. + 17.11.2023
 
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