16/12/2007
16/12/2007

Claudia Friedrich sprach über die Annenstraße als Zwischenraum

Drei Mitarbeiterinnen von „Freigangproduktionen“ stellen das interkulturelle Projekt „Floßlend“ vor.

Elke Krasny eröffnet mit Narrativem Urbanismus neue Perspektiven auf die Stadt

Architekt Hansjörg Luser („Zeit für Graz“)

ArchitekturstudentInnen haben kleine Skizzen in Form von Reiseführern entworfen.

Ebenfalls von den StudentInnen angefertigte Puzzles werden im Foyer des Kunsthauses ausgestellt.

Ausstellung im Foyer, Kunsthaus Graz

Die abschließende Podiumsdiskussion mit Friedrich Bouvier, Margarethe Makovec, Elke Krasny, Erwin Fiala, Irmgard Frank, Harald Saiko, Hansjörg Luser und Gerhard Rüsch (v. li.). Fotos: jsch

Am 07.12. 2007 fand im Grazer Kunsthaus ein ganztägiges Symposium statt, dessen TeilnehmerInnen sich einer multiperspektivischen Analyse urbaner Räume in Graz widmeten. Im Space04 präsentierten die ReferentInnen aus den Bereichen der Geschichte, Architektur sowie KulturwissenschaftlerInnen und MedientheoretikerInnen aus einem transdisziplinären Ansatz heraus ihre Blickwinkel und Forschungsergebnisse in Bezug auf Raum, Geschichte und Identität der Bezirke Lend und Gries, also der historischen Murvorstadt.

Hervorgegangen ist dieses Projekt aus einer Kooperation der Karl-Franzens-Universität Graz (Institut für Geschichte), der Technischen Universität Graz (Institut für Raumgestaltung) und des „Büros der Erinnerungen“. Als Organisatoren zeichneten Dr. Nikolaus Reisinger, DI Gottfried Prasenc und Mag. Elke Murlasits verantwortlich.

Im Rahmen der Tagung wurde im Foyer des Kunsthauses Graz eine Ausstellung der Projektgruppe der Uni Graz sowie von Studierenden der Raumwahrnehmungsklasse der TU Graz eröffnet. In den Objekten – darunter riesige Puzzles, die die Bezirke als Fleckerlteppiche zeigen oder kleine Skizzen im Stil von Reiseführern – spiegeln sich die vielfältigen Welten der Bezirke Lend und Gries.

Ein erster Block steckte mit Beiträgen von Gottfried Prasenc und Franziska Klug (Architektur) sowie Gerhard Dienes und Gerhard Kubinzky (Geschichte) die räumlichen, architektonischen und historischen Grenzen und Inhalte der Thematik ab. Die beiden ArchitektInnen setzten sich mit den topografischen Voraussetzungen, wie der Infrastruktur, bzw. den Besonderheiten des Wohnbaus in den beiden Bezirken auseinander. Sandra Brugger machte in ihrem auf der Gedächtnistheorie fußenden Referat darauf aufmerksam, dass sich die an der alten, von Norden nach Süden verlaufenden Kommerzialstraße gelegenen Straßenmärkte erst im 19. Jahrhundert zu Plätzen im klassischen Sinn entwickelt haben, die durch Denkmäler und markante Gebäude in ihrer Charakteristik verstärkt wurden. In seinem Input gab Medienphilosoph Erwin Fiala zu bedenken, dass Architektur ihre Bedeutung erst durch die sie benutzenden bzw. rezipierenden Menschen erhalte.

Der zweite Block der Tagung, der von Architekt Harald Saiko moderiert wurde, setzte sich mit der Erfahrung von Urbanität auseinander. Von historischer Seite analysierte Claudia Friedrich die Annenstraße als „Zwischenraum“, die nicht nur die Grenze zwischen den Bezirken bildet, sondern auch lange Zeit als der typische Ort eines großstädtischen Graz gelten sollte bzw. auch als „Judenstraße“ gebrandmarkt wurde, bevor sie zu einer „Ramschladen-Straße“ wurde. Mit dem Phänomen der sich ausbreitenden „ethnischen Ökonomien“ setzte sich Michael Hauer auseinander: In den beiden Bezirken waren traditionell ökonomisch schwächere Gruppen ansässig, heute beträgt der Anteil von MigrantInnen zwischen 23 und 26 Prozent. Hauer betonte, dass die oft erwünschte soziale Stabilisierung hier nicht durch Assimilation, sondern durch Bewahrung der eigenen Identität von ethnischen Gruppen erreicht werden kann, wozu das Angebot an vertrauten Waren einen Beitrag leistet.

Drei Mitarbeiterinnen von „Freigangproduktionen“ stellten das interkulturelle Projekt „Floßlend“ vor, das durch Techniken wie Verschiebung (vom privaten in den öffentlichen Raum), Narration und die Videodokumentationen von Alltagswegen die konkrete Lebenserfahrung in diesen Bezirken performativ aufzeigen will. Mit ähnlichen Methoden arbeitet Elke Krasny, deren „Narrativer Urbanismus“ mittels der Erzählungen von BewohnerInnen neue Blicke auf den städtischen Raum produziert.

Der dritte Block widmete sich in beiden Beiträgen von Alexander Verdnik und Christoph Hartner bzw. Walther Moser, den „Gesichtern und Geschichten“, die das Alltagsleben der BewohnerInnen durch Fotos, Video- und Tonaufnahmen medial erfahrbar machen.

In der abschließenden Podiumsdiskussion, an der sich neben den Vortragenden Margarethe Makovec (rotor), Irmgard Frank (TU Graz), Friedrich Bouvier (Landeskonservator), Hansjörg Luser („Zeit für Graz“) und Planungsstadtrat Gerhard Rüsch beteiligten, wurden die gesellschaftlichen Prozesse und Chancen der rechten Murseite erörtert. Die Stigmatisierung in der Sicht der BewohnerInnen des Ostufers habe sich vom ehemaligen Arbeiterviertel auf die nunmehrigen Wohnquartiere von MigrantInnen übertragen, so der Tenor. Das Projekt eines Naschmarktes für Graz am Griesplatz konnte leider nicht verwirklicht werden, trotzdem sei die Gegend zum Einkaufen interessant, bekannte Rüsch, und „nicht so langweilig wie die Siedlungen in anderen Bezirken“. Makovec vermerkte vor allem die zunehmende Konzentration von Theatern und kulturellen Vereinen, zuletzt des HDA, in den beiden Bezirken, die Hoffnung auf die Zukunft gebe. Dessen ungeachtet werde eine zunehmende Reglementierung als negativ für die Entwicklung kreativer urbaner Freiräume empfunden.

Die Publikation der Ergebnisse des Symposiums im kommenden Jahr sollte Anlass sein, die Potenziale und Chancen von Lend-Gries in der öffentlichen Diskussion rund um Stadtentwicklung nicht aus den Augen zu verlieren.

Verfasser/in:
Josef Schiffer, Bericht
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