15/03/2021

Sustainable Systems |
Aglaée Degros:
Die Räume zwischen den Gebäuden

Der Artikel von Birgit Baustädter, zuständig für Science communications der TU Graz, wurde erstmals am 08. März 2021 im Newsletter
TU Graz research monthly veröffentlicht und dankenswerterweise zur Veröffentlichung auf GAT freigegeben.

Aglaée Degros, Arch. Univ.-Prof. leitet das Institut für Städtebau an der technischen Universität Graz.
Sie erforscht u.a. ländliche und städtische Zwischenräume und das, was in ihnen passiert. Vor allem die Pandemie des vergangenen Jahres hat die (Wohn-)Bedürfnisse der Menschen verändert.

Sustainable Systems ist eines von fünf strategischen Schwerpunktfeldern der TU Graz.

Der Newsletter TU Graz research monthly informiert über Forschungshighlights, Forschende und Events an der TU Graz.

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15/03/2021

Aglaée Degros, Arch. Univ.-Prof., leitet das Institut für Städtebau an der technischen Universität Graz. Sie erforscht u.a. ländliche und städtische Zwischenräume und das, was in ihnen passiert.

©: Lunghammer – TU Graz

Aglaée Degros‘ Büro ist groß, hell und lebt von einem zentralen Besprechungstisch. Den Tisch füllen Bücherstapel, handgefertigte Zeitungen und Ausdrucke von Grafiken. Gerade noch ein Laptop und zwei Tassen Kaffee finden hier Platz. Der Schreibtisch der Leiterin des Instituts für Städtebau ist unscheinbar platziert zwischen den raumhohen Flügelfenstern an der hinteren Raumwand. Ein Laptop steht darauf und noch mehr Bücher. Ins Auge fällt vor allem, was über dem Schreibtisch hängt: Eine vergilbte Karte mit dem Titel Bebauungsplan von Graz aus dem Jahr 1926, die die gesamte Länge der Altbauwand einnimmt. Sie ist alt und wunderschön.
An beiden Seitenwänden des Zimmers öffnen Glastüren den Blick in die angrenzenden Räume. Immer wieder betreten Mitarbeitende das Büro durch die eine und verlassen es durch die andere Türe. Ein Durchgangszimmer? Passen würde es zu Aglaée Degros, die sich in ihrer Forschung mit gemeinschaftlich genutzten Räumen im städtischen Raum beschäftigt.

Von Wasser, Mobilität und Natur
„Ich organisiere die Stadt“, erklärt Degros mit einem Lächeln auf den Lippen. „Man kann eine Stadt als Ansammlung von Gebäuden denken, aber auch als Netzwerk der Räume, die zwischen den Gebäuden liegen: Wasser, Natur, Mobilität.“ Das Problem derzeit: Diese Räume werden primär für den Autoverkehr genutzt und sollten in Degros‘ Augen neu verteilt werden. Denn nicht zuletzt das durch die Corona-Pandemie häufigere Arbeiten von Zuhause aus hat in den Menschen den Wunsch nach mehr Natur und gemeinschaftlich nutzbaren Flächen in ihrer nahen Wohnumgebung neu entfacht. „Die Menschen wünschen sich die Natur zurück – gerade mit Fortdauer des vergangenen Jahres haben sich ihre Wohnungen immer kleiner und kleiner angefühlt.“
Das Thema Nachhaltigkeit spielt in den Überlegungen von Degros eine zentrale Rolle. Sie sieht große Chancen in der Reintegration der Natur in die Städte. „Die Verdichtung von Wohnbauten ist sehr nachhaltig und wird in Zukunft weiter forciert werden. Vielfach wurde aber auf die Qualität des öffentlichen Raumes vergessen.“ Zum Beispiel verstärken die vielen versiegelten Flächen im urbanen Raum die Hitzeentwicklung in Städten. Für natürliche Kühlung können zum einen Bäume, Wiesen und Parks sorgen. Aber auch eine kluge Architektur kann hier ein Lösungsansatz sein und eine natürliche Belüftung bewirken; etwa durch sogenannte „Urban Canyons“ – den schmalen Schluchten zwischen Gebäuden.

Dezentrales Wohnen und Arbeiten
Die Corona-Pandemie hat die Arbeitswelt nachhaltig verändert. Viele haben erkannt oder erkennen müssen, dass auch von Zuhause aus sehr gut gearbeitet werden kann. Was weitreichende Folgen in der städtischen Entwicklung haben könnte, wie Aglaée Degros erklärt: „Ich glaube, dass auch in Zukunft mehr von Zuhause aus gearbeitet wird. Das macht jene ländlichen Städte und Gemeinden wieder attraktiv, die lange mit Abwanderung zu kämpfen hatten. Ich kann zum Beispiel in Trofaiach wohnen, online arbeiten und nur ein bis zwei Mal pro Woche nach Graz ins Büro fahren.“ Voraussetzung dafür ist, dass die bereits sehr ausgedünnte ländliche und kleinstädtische Infrastruktur wieder reaktiviert werde: „Das ist bei Schulen oder Kindergärten kein Problem. Schwierig wird es bei kostenintensiver Infrastruktur. Wenn beispielsweise ein Bahnhof fehlt, dann wird es schwer, einen Ort attraktiver zu machen.“ Denn, so Degros, diese Variante funktioniert nur, wenn die Verbindung der Orte weniger über Autoverkehr und verstärkt über nachhaltige Mobilitätskonzepte wie die Schiene realisiert wird.
In der Forschung unterscheidet man drei Arten, wie Städte funktionieren. Als erstes gibt es die klassische Metropole, wie Graz eine ist. Eine solche Großstadt bedingt aber auch, dass kleinere Gemeinden in der Nähe – wie zum Beispiel in der Ober- und Südoststeiermark – zu Gunsten des Speckgürtels der Metropole aushungern. Eine andere Variante zeigt sich mit Wien und Wiener Neustadt: Eine Großstadt mit Satellitenstädten, die gut über öffentliche Verkehrsmittel miteinander verbunden sind. Und die dritte Variante wurde in Vorarlberg umgesetzt, wo die drei kleineren Städte Dornbirn, Bregenz und Feldkirch stark vernetzt und über nachhaltige Verkehrsmittel gut verbunden sind. „Ich persönlich denke, diese Methode ist nicht ausreichend valorisiert“, erklärt Degros. „So könnten die Ressourcen der einzelnen Städte aber effektiv genutzt werden.“ Freilich ist auch diese Variante nur zukunftsfähig, wenn die Mobilität zwischen den Städten nachhaltig organisiert werden kann.

Nahversorgungsstruktur
Nicht nur in kleinen Städten oder im ländlichen Raum ist die fehlende Nahversorgungsstruktur ein Problem. „Besonders während des Lockdowns konnte man deutlich sehen, dass zwar die Mobilität zum Arbeitsplatz stark gesunken ist, sich aber in einen anderen Bereich verschoben hat“, so Degros. „Die Menschen sind mit dem Auto zum Supermarkt oder Bäcker gefahren, weil es in der näheren Umgebung keine Angebote mehr gibt.“
Dieses Problem zeigt sich nicht nur in Österreich, sondern zum Beispiel auch in Brüssel. Als Teil des wissenschaftlichen Beirates für die regionale Entwicklung der belgischen Hauptstadt erarbeitet Degros Vorschläge zum Wiederaufbau dieser Infrastruktur. Ebenso ist die Forscherin mit Projektleiterin Eva Schwab und ihrem Forschungsteam in kleineren, steirischen Städten engagiert, wo sie gemeinsam mit der dort lebenden Bevölkerung Konzepte entwickelt, die diese Orte wieder attraktiv und lebendig machen sollen.

Mobilität und Lebensqualität
Wichtiger Punkt für die Lebensqualität und damit für die Attraktivität eines Wohnortes ist natürlich das Mobilitätskonzept. Diesem widmen sich Degros gemeinsam mit der TU Wien derzeit unter anderem in Villach. Unter dem Schlagwort tactical mobility werden dort in den kommenden Monaten mehrere Konzepte in einem Live-Versuch getestet und ausgewertet. „Wir starten mit einem Pop-Up-Fahrradweg, der einen Monat lang aufgebaut wird. Wenn er sich positiv auf das Verkehrsaufkommen in der Umgebung auswirkt, dann könnte er bleiben. Von allen geplanten Versuchen leiten wir dann am Ende langfristige Vorschläge ab.“
Außerdem schlossen die Forschenden im Rahmen des Projektes Urban MoVe (MobilitätsVertrag) gemeinsam mit der TU Wien die Entwicklung eines Mobilitätsvertrages ab, der den Mobilitätsmix in neugebauten Wohnhäusern sicherstellen soll. „In Wohnhäusern kommen auf eine Wohnung oft mehrere Autos – dazu braucht es dann große, kostenintensive Garagen“, erklärt Degros den Hintergrund. Um das zu ändern, soll über den Mobilitätsvertrag festgelegt werden, wie ein attraktiver Mix aus nahen Straßenbahn-Haltestellen, Carsharing-Angeboten und Fahrrad-Abstellplätzen in das Gebäudekonzept einfließen soll. „Vor allem in Wien und in einigen Gebäuden in Graz gibt es schon sehr interessante Projekte dazu.“
Vision für Luxemburg: Ein internationales Forschungsteam widmet sich derzeit einem umfassenden Projekt: Einer Zukunftsvision für ein carbonneutrales Luxemburg. Degros ist ebenfalls Teil davon. „Dieses Projekt ist deshalb so reizvoll, weil wir ein Konzept für einen ganzen Staat entwickeln.“

Wohnen mit Gemeinschaftsgarten
Tagtäglich beschäftigt sich Aglaée Degros damit, wie Menschen leben. Aber wie lebt die gebürtige Belgierin selbst? In einem städtischen Altbau mit Gemeinschaftsgarten im Innenhof. „Ich liebe den Kontrast zwischen sehr ländlichem und sehr urbanen Leben in Graz. Ich wohne nur 15 Minuten von der TU Graz entfernt“, erzählt sie lächelnd. „Ich habe selbst keinen Garten, aber unser ganzes Haus nutzt den Innenhof zum Beispiel im Sommer zum Grillen. Wir sind sehr gut organisiert.“ Auto besitzt sie selbst übrigens keines, nutzt aber gerne das Fahrrad und das Carsharing-Angebot der TU Graz. „Ich finde das Teilen von Ressourcen viel interessanter, als das Besitzen von Dingen.“

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