23/08/2013

Identität–Politik–Architektur. Der „Verein für Heimatschutz in Steiermark“.
Antje Senarclens de Grancy (Hg.).
Berlin: Jovis Verlag 2013.
(= Architektur + Analyse Band 4., Hg. v. Anselm Wagner).
270 Seiten.

23/08/2013

Beispiel aus dem Buch 'Identität–Politik–Architektur': Der Beitrag von ULRICH TRAGATSCHNIG, Seite 181, zeigt das Elisabethhochhaus in Graz von Karl Raimund Lorenz und sein Vorbild in Mailand, den Torre Breda von Luigi Mattioni. Kopie der Doppelseite aus der Heraklith Rundschau, Heft 37, Mai 1956.

©: JOVIS Verlag GmbH
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Ambivalenz zwischen Tradition und Erneuerung

Als sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Heimatschutzbewegung als Reaktion bildungsbürgerlicher Schichten auf Modernisierung und Urbanisierung zu organisieren begann, sah sich diese nicht nur als Bewahrerin, sondern durchaus als Trägerin einer kulturellen Erneuerung. Der 1909 in Graz gegründete Verein für Heimatschutz in Steiermark geriet von einer Betonung des „Heimischen“ und „Bodenständigen“ sowie durch seine meist deutschnational gesinnten Proponenten bald in die Fahrwasser von völkischem und ab der Zwischenkriegszeit nationalsozialistischem Gedankengut.

Das hundertjährige Gründungsjubiläum 2009 bot Anlass für eine Reflexion der eigenen Vergangenheit sowie einer Neuverortung, die bereits einige Jahre zuvor durch die Neubenennung in Verein Baukultur Steiermark eingeleitet worden war. Die Übergabe des Archivbestandes des Vereins an das Landesarchiv sowie das Symposium Transformationen gaben den Anstoß zum Forschungsprojekt „Identität–Politik–Architektur“ an der TU Graz, dessen Ergebnisse gemeinsam mit den Tagungsreferaten den Inhalt der vorliegenden Publikation bilden.

Das Ziel des Sammelbandes ist es, „aus verschiedenen disziplinären Perspektiven“ auf den „Wandel der Positionen des Heimatschutzes in ihrem Verhältnis zu Politik, Öffentlichkeit und Alltagspraxis zu fokussieren“, was man bei Betrachtung der Ergebnisse als höchst gelungen bezeichnen kann. Die zwölf Beiträge des Bandes spannen den Bogen von der Geschichte des Vereins und seiner prägenden Figuren über die politische Radikalisierung der zwanziger Jahre und das kulturelle Klima der Nachkriegszeit bis in die Gegenwart mit Aufarbeitung und Neupositionierung.

Auf den einleitenden Beitrag des Kulturwissenschaftlers Bernhard Tschofen (Tübingen), der sich den ideengeschichtlichen Grundlagen der Heimatbewegung widmet, folgen in einer chronologischen Ordnung u. a. die Forschungsergebnisse der Mitarbeiter am interdisziplinären Projekt an der TU Graz.
Unter dem Titel Konservative Reform skizziert die Herausgeberin Antje Senarclens de Grancy die Anfänge der steirischen Heimatschutzbewegung, die ihr Feindbild zunächst im austauschbaren Historismus repräsentativer Gebäude der Gründerzeit fand.
Werner Suppanz analysiert anhand der Kriegsflugblätter Heimatgrüße die Radikalisierung des Vereins hin zur Propagierung des Deutschtums gegen das „Fremdvölkische“.
Helmut Eberhart beschreibt die ambivalente, aber jedenfalls prägende Rolle des Volkskundlers Viktor von Geramb, der trotz seiner deutschnationalen Gesinnung von den NS-Machthabern kaltgestellt wurde und daher nach dem Zweiten Weltkrieg seine Arbeit im gesellschaftspolitischen Dienst einer sich jedoch zunehmend auflösenden „Volkskultur“ weiterführen konnte. Zur Verstrickung in die Zielsetzungen des NS-Regimes und dessen Baupolitik sowie der überraschend schnellen Rekonstitution des Vereins 1945/46 hat Roman Urbaner viele neue Fakten zusammengetragen. Mit dem Umbruch der Nachkriegssituation befassen sich auch die Artikel von Antje Senarclens zu den NS- Wurzeln der Steirischen Landbaufibel sowie von Dieter A. Binder zur Neudefinition des Heimatbegriffs durch die „Heimatmacher“.
Monika Stromberger zeigt anhand der Wiederaufbauphase nach 1945, wie die Heimatschutzbewegung gegen Ortsbildzerstörung und Verkitschung sowohl publizistisch wie durch aktives Einwirken auf die Politik ihre kulturkonservativen Positionen durchzusetzen versuchte.
Mit der Hochhausdebatte und der nicht immer konsistenten Haltung des Vereins für Heimatschutz beschäftigt sich Ulrich Tragatschnig; trotz Kritik an Familienfeindlichkeit dieser Wohnform wollte man sich nicht auf eine grundsätzliche negative Haltung gegenüber moderner Architektur bzw. Hochhäusern festlegen lassen.
Den Wandel in der Selbstdefinition und seine Ursachen beschreiben Johannes Ebner und Barbara Colette Zitturi: in zahlreichen Umbenennungen des Vereins spiegeln sich Ambivalenzen und Mehrdeutigkeiten, die von Anfang an die Diskussionen zwischen Bodenständigkeit und Moderne bestimmten. Im weiteren Beitrag zeichnet das Autorenduo die Transformation des Vereins von einer einflussreichen, mit den Landesbaubehörden eng vernetzten bürgerlichen Bewegung zum Expertengremium für Baukultur nach.
Der abschließende Beitrag von Barbara Feller widmet sich der Architektur- bzw. Bauskulturvermittlung, die als praktisch anwendbares Know-how für breite Bevölkerungsschichten, bildungspolitische Aufgaben wahrnimmt, die sich mit der heutigen Rolle des Vereins für Baukultur gut in Einklang bringen lassen.

Anhand seiner Bandbreite ist der vorliegende Sammelband damit nicht nur ein informativer Abriss zur wechselhaften Geschichte der Heimatschutzbewegung in der Steiermark, sondern gibt auch zahlreiche Anknüpfungspunkte und Impulse für eine vertiefende Auseinandersetzung mit den zahlreichen (kultur-)wissenschaftlichen Facetten heimatschützerischer Aktivitäten.

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