10/05/2022

Wolkenschaufler_58

Vermessene Verhältnisse

Die Kolumne Wolkenschaufler von Wenzel Mraček zu Lebensraum, Kunst und Kultur(-politik) erscheint jeden 2. Dienstag im Monat auf GAT.

10/05/2022

Aus der Serie "Destinesia"

©: Joerg Auzinger

Clarification

©: Joerg Auzinger

Blind Spot

©: Joerg Auzinger

Leicht zu übersehen ist eine Reproduktion Jan van Eyks Die Madonna des Kanzlers Nicolas Rolin (um 1435). Ein kleiner Schaukasten mit Glasplatte ist im Boden des Ausstellungsraumes eingelassen, darin das gegenüber dem Original um etwa zwei Drittel verkleinerte Bild, das den Kanzler ursprünglich mit gefalteten Händen im selben Raum mit der Gottesmutter zeigt. Auf ihren Knien der Jesusknabe, der seinen Arm segnend in Richtung Rolin hebt. Einer der reichsten und mächtigsten Männer Burgunds dachte, sich mit diesem Auftragswerk zu Lebzeiten für einen prädestinierten Platz im himmlischen Jerusalem zu akkreditieren. In der Bild-Version des Medienkünstlers Joerg Auzinger dagegen, legt sich der Kanzler wie von plötzlichem Zweifel erfasst eine Hand vor Augen, der Jesusknabe fehlt und an seiner Stelle befindet sich ein flammendes Etwas, während anstelle des Blicks auf eine Landschaft im Hintergrund nur mehr gleisendes Licht durch Arkaden fällt. Das Desiderat Jerusalem wird durch subtile Eingriffe in van Eyks Bildkomposition und Auzingers Titel Clarification (2008) zur Darstellung eines Moments der Klärung oder Erkenntnis ganz im Sinn des Ausstellungstitels Hybris, der Selbstüberschätzung oder Anmaßung.

Mittels interaktiven (Video-)Installationen, Fotografie und Objekten verhandelt der 1972 in Linz geborene und in Wien lebende Joerg Auzinger durchwegs Phänomene in Relationen zwischen Mensch und Maschine respektive gleichen seine künstlerischen Konzepte analytischen Instrumenten gegenüber Medien und deren Vermögen, Wirklichkeit zu vermitteln oder zu generieren. In der Ausstellung im Steirischen Feuerwehrmuseum Groß St. Florian sind nun mehrere Werkgruppen präsentiert, mit denen vor allem die Konstruktion von Realität infolge individueller Wahrnehmung thematisiert ist. Grundlegend folgt Auzinger hier Thesen des radikalen Konstruktivismus, nach denen Realität aus individueller Wahrnehmung und folgender Interpretation entsteht und etwas wie Wirklichkeit erst aus der Übereinkunft mehrerer Wahrnehmenden bezeichnet werden kann. Worauf, wie in der Foto-Serie Destinesia, verweisen fotografische Aufnahmen, von denen nur vermutet werden kann, dass (digital) manipuliert wurden. Auf den zeitlich vergangenen Moment der Aufnahme, während ein Arbeiter eine Fassade restauriert? Der obere Teil des großformatig reproduzierten Bildes ist strukturgleich verlängert. Im Ausstellungsraum affichiert entsteht der Eindruck, die Wandstruktur sei die des Feuerwehrmuseums. Es handelt sich damit um die Simulation des zeitlich vergangenen Ereignisses, die jedenfalls auch nicht der damaligen Wahrnehmung des Fotografen entspricht. Mit Jean Baudrillard gedacht, handelt es sich vielleicht um eine Realität zweiter Ordnung und es war nicht und es ist nicht, was wir auf den ersten Blick als Dokument vermuten.

Bei Annäherung an die interaktive Videoinstallation Surface Sensorium sehen sich Betrachter plötzlich auf einem erhöhten Podest. Umjubelt von virtuellem Publikum ist das eigene, bewegte Live-Bild in einer fiktiven Situation zu beobachten. Beobachtet fühlt sich der/die BeobachterIn dagegen in der Doppelprojektion Blind Spot: In zwei gegenübergestellten Filmsequenzen aus Alfred Hitchcocks Klassiker um vermeintliche Wahrnehmung, Das Fenster zum Hof, richtet einerseits der Protagonist sein Kameraobjektiv (scheinbar) auf die Szene gegenüber. Dort ist das bewusste Fenster zu sehen, hinter dem man sich nun selbst als Akteur findet. Gleichzeitig erscheint man in diesem Augenblick gespiegelt im Objektiv von James Stewart. Man beobachtet sich (wirklich), wie man – dem Anschein nach – in einem virtuellen Szenario beobachtet wird.

Der Ausstellungstitel Hybris entstammt einem jüngsten, abermals interaktiven Video. Die Vermessenheit in diesem Bewegtbild einer Landschaft ist wohl mit einer offenbar im Bau befindlichen, chinesischen Hochhaussiedlung in Verbindung zu bringen. Tritt man nun vor die Projektion des dystopisch anmutenden Bildes, wird man, vermessen durch Infrarot-Sensoren, zur schemenhaften Figur, die offenbar Auslöser einer Springflut ist. Scheinbar – oder wirklich ? – ist man Akteur und Initiator eines programmierten Szenarios.

Wie wirklich nun, bleibt zu fragen und wird uns mit Joerg Auzingers Kunst vermittelt, ist, was wir als medial vermittelte Wirklichkeit begreifen (müssen, wollen)?

Joerg Auzinger, Hybris. Bis 5. Juni im Steirischen Feuerwehrmuseum. Marktstraße 1, Groß St. Florian.

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