25/10/2022

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Die Kinder der Sterne

Als der Mythos vom Logos abgelöst wurde, trat die Menschheit ins Zeitalter der Schrift und der Vernunft und zugleich ins Patriarchat ein. Zunehmend wird auch der Mythos, formal mehr ein weibliches Prinzip, von den Männern vereinnahmt und zur illusorischen Erklärung des Ursprungs der Wahrheit, der Wirklichkeit missbraucht. Leidtragende sind vor allem diejenigen, die an ihn glauben und die nicht an ihn glauben, sowie diejenigen, die ausgegrenzt werden – das Andere, Fremde, die Frauen. Das Böse als/ist Realität/Illusion.
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zeitenweise erscheint jeden 4. Dienstag im Monat. In seiner Kolumne geht Wolfgang Oeggl den Themen nach, die ihn und die Gesellschaft aktuell bewegen.

25/10/2022

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©: Severin Hirsch

„Ich frage mich noch immer, ob ich eine Fiktion bin.

Die Zeit der Erzählungen ist vorbei, die Stimmen sind verstummt oder werden nicht mehr gehört, es sind andere Erzählweisen gekommen, die andere Identitäten unterstützen. Wir sind eine vom Aussterben bedrohte Spezies. Aber die Schuld trägt nicht der Seestern.“ (Rada Iveković, Autopsie des Balkans. Ein psychopolitischer Essay. Graz-Wien 2001. S. 155.)

Asterias, der Seestern, ist ein Meereslebewesen, dessen Fortpflanzung nicht auf einem Akt der körperlichen Vereinigung basiert, sondern indem das Weibchen Millionen von Eizellen und das Männchen sein Sperma ins Meer ausstoßen, wo dann – auf neutralem Boden, im externen Raum – die Befruchtung stattfindet. Die Arbeitsteilung und der Arbeitseinsatz hinsichtlich des Geschlechts sind bei der Fortpflanzung gerecht aufgeteilt und die Nachkommenschaft steht in einer zufälligen und unbekannten Erbfolge. Allen Lebewesen, die wie der Seestern in Form einer radialen Symmetrie, in dessen Zentrum der Mund liegt, angeordnet sind, ist es gemein, dass sie schon früh in der Evolution einen Zustand der Vollkommenheit erreicht haben. Für die in bilateraler Symmetrie entwickelten Lebensformen geht es im Gegensatz dazu in der Evolution immer um ein Vorankommen, um Weiterentwicklung, um Fortschritt, um Wachstum. Den Kopf (mit immer größeren Hirnvolumina) nach vorn gerichtet, die Gliedmaßen an den Seiten, gibt es nur die Marschrichtung Zukunft – trotz aller Retrospektiven, trotz aller Gefahren, die in der Vergangenheit lauern.

Der Mythos als Oralität, als mündliche Überlieferung ist seiner Form nach weiblich, die Erzählung verläuft zyklisch, ist der Zyklus des Lebens, in jeder Erzählung entsteht der Mythos aufs Neue, wird die Welt neu geschaffen. Geburt und Wiedergeburt. Zyklus und Radialsymmetrie. Vollkommenheit des Lebens und der Schöpfung. Mit der Schrift, dem patriarchalen Samen, wird die Spur des Mythos nachverfolgbar, bekommt er einen Anfang und ein Ende, wird zur Linearität, zur Geschichte, festgesetzt und festgeschrieben, wird zum Gesetz, dem nichts mehr hinzugefügt, vor dem nichts verborgen werden kann. Diesseits und jenseits der Linie bleiben noch Möglichkeiten zum Anschluss, der Korpus, der Mythos muss unberührt, unbefleckt bleiben. Kausalitätsprinzip. Wirkung und Ursache. Leben und Tod. Die Frau verliert die zentrale Stellung als Lebensspenderin im Schöpfungs-, im Ursprungsmythos und muss ihre Position einem allmächtigen Vater, der nicht nur das gesprochene Wort okkupiert und korrumpiert, sondern auch das Gesetz (des Lebens und Zusammenlebens) für sich beansprucht, überlassen. Objektive Wahrheit(en), a posteriori, apostolisch legitimiert. Herrschaftsprinzip. Geschützt und verteidigt von einer phallischen Linie. Phalanx virilis.

Der Mythos als Schrift, als Geschichte (und auch als Wissenschaft) des (irgendeines) Ursprungs schafft eine Illusion und erhebt sie zur objektiven Wahrheit. Die erste Illusion ist die Illusion der Entstehung der Erzählung selbst: als objektive Beschreibung von Tatsachen oder als objektive Wiedergabe einer Erzählung von einem Subjekt aus, dem es möglich zu sein scheint, sich auf sich selbst als objektives und/oder objektivierendes Subjekt beziehen zu können. Die zweite Illusion betrifft die Möglichkeit einer Beschreibung der objektiven Wahrheit/Wirklichkeit im Allgemeinen. Was beschreiben wir denn anderes, als unsere sensiblen oder intelligiblen Wahrnehmungen und wenn nicht diese, dann Daten aus selbst erschaffenen Apparaturen, die uns die Beweise einer objektiven Realität liefern sollen? Die dritte Illusion liegt in den Möglichkeiten unserer Kommunikation, angefangen bei der Sprache, bei denen es sich um keine adäquaten und realistischen Medien zur Wirklichkeitsbeschreibung handelt, sondern lediglich um den Austausch und die Übermittlung von Informationen. Die vierte Illusion bezieht sich auf die Möglichkeit einer intersubjektiven „objektiven“ Wahrheit. Das bedeutet letztendlich aber nicht mehr als Konsens, nichts anderes als die scientific community in ihren Begriffs- und Theoriefestlegungen betreibt. Die fünfte Illusion betrifft die zeitliche Verzögerung bei der Erfassung eines Objekts. Als extremstes Beispiel genügt der Blick zu den Sternen. Oder die (Un-) Möglichkeit einer gleichzeitigen Bestimmung von Ort und Geschwindigkeit/Impuls eines Objekts laut Heisenbergscher Unschärferelation. Die sechste Illusion liegt in der generellen Subjekt-Objekt-Relation, sowohl was die Subjekt- als auch die Objekt-Seite betrifft. Ein von der Wahrnehmung eines Subjekts unabhängiges Objekt ist zwar vorstellbar, aber nicht darstellbar, also illusorisch. Das Postulat eines unabhängigen Subjekts mag vielleicht vom rechtlichen Standpunkt als vorteilhaft erscheinen, aber letztendlich bleibt es ein sprachlich-philosophisches Konstrukt ohne Realitätsbezug. „Real sind nur Individuen. Individuen aber sind außerhalb unserer Sprache unauffindbar, wir kennen also kein Reales. Ich ist sich dessen sicher.“ (Helmut Eisendle, Das Verbot ist der Motor der Lust. Salzburg-Wien 1980. S. 91.)

Die Realität ist eine Illusion. Nicht, dass es kein Außerhalb, kein Reales abseits unserer Wahrnehmung gibt oder geben könnte. Doch alles, was wir als Realität bezeichnen, ist uns nur durch Zeichen zugänglich und um abseits dieser Zeichen Beweise für die Realität zu finden, erfinden wir neue Zeichensysteme, die die vorherigen beweisen oder allenfalls widerlegen – und das bedeutet zugleich (technologischen) Fortschritt. „Die Welt ist also eine radikale Illusion. Das ist eine Hypothese wie jede andere: jedenfalls unerträglich. Und um sie abzuwehren, muss die Welt realisiert werden, man muss ihr die Kraft der Realität geben, ihr um jeden Preis zum Existieren und zum Bedeuten verhelfen, ihr jeden geheimnisvollen, beliebigen, zufälligen Charakter nehmen […]. Dieses gigantische Desillusionierungsunternehmen – wörtlich: die Tötung der Welt zugunsten einer absolut realen Welt – genau das ist die Simulation.“ (Jean Baudrillard, Das perfekte Verbrechen. München 1996. S. 33.) Wir simulieren die Realität durch Zeichen und nennen es dann (objektive) Wahrheit. Das ist die Illusion, das ist der Mythos, der seinen eigenen Ursprung zu verbergen versucht, indem er einen Ursprung schafft. Und genau das sind die Mythen, die heute erzählt werden, um die Helden(!)epen der Partisanen oder des Proletariats im Kampf gegen das faschistische oder bürgerlich-aristokratische Joch zu überlagern, um neue Schöpfungsmythen großer und kämpferischer Nationen zu erschaffen – selbstverständlich in altbewährter Manier unter Aussparung der Frauen. Brüderlichkeit und Einheit. Was zählt, ist der gemeinsame Glaube an den jeweiligen Mythos und die alleinige Wahrheit für sich zu beanspruchen. Was einst für Jugoslawien oder die Sowjetunion galt, gilt heute – in leichten Abwandlungen – (mehr oder weniger) für die aus ihnen entstandenen Nationen. Der Mythos stiftet Identität und diese sorgt wiederum für Ab- und Ausgrenzung. Dieses Schicksal ereilt auch diejenigen, die sich zu keinem der neuen Nationalmythen bekennen, die ihre Identität und ihre Werte in einem bereits aufgelösten, pluralistischen Staatengebilde verankert sehen. Sie wurden zu Heimatlosen, ohne (zwangsläufig) ihren Heimatboden verloren zu haben. Auch sie sind Ausgegrenzte, die partout keine Position zu einer gegenwärtigen Zugehörigkeit beziehen wollen und deshalb mit Unverständnis, Argwohn, Hass oder Gewalt konfrontiert werden. Vielleicht wird dieses Schicksal bald auch andere Teile Europas, das andere Europa, das Andere Europas ereilen. „Der Traum von einem Anderswo fernab von Jugoslawien*, der Traum von einem ganzen Land, das einen Namen trägt, von einem demographisch erfassten Ort und von einem Anderswo ohne Krieg ist wieder aktuell geworden. Flüchten bis ans Ende der Welt. Die Nachbarländer sind mit in den Sturz gerissen worden.“ (Rada Iveković, S. 198.) *Der Stern Jugoslawiens, der Stern der Sowjetunion versuchte einst die verschiedenen Völker (und Geschlechter) in „Brüderlichkeit“ zu einen und gleichzustellen und an gemeinsame Ideale und Visionen zu erinnern. Diese Ideale sind 1989/1991 verloren gegangen, zugleich aber auch die Ideale und Visionen eines EUropas, das sich zum Zeitpunkt des Jugoslawienkriegs selbst bloßstellte. Heute schickt es Waffen im Austausch gegen Flüchtlinge, um sich von jeglicher Verantwortung reinzuwaschen und den nächsten Krieg auf europäischem Gebiet in der Peripherie zu halten. Bezahlen sollen andere. Und ein paar auch was dabei verdienen.

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