22/11/2022

Katar, Katarakt und Katharsis oder von Schulden, Schurken und Staaten

Die umstrittene WM in Katar lässt die Gemüter nicht nur der Fußball-Fans kochen. Die Frage nach Menschenrechten, adäquaten Arbeitsbedingungen und würdigem Umgang mit Leben hat schon im Vorfeld eine zentrale Rolle gespielt. Der Bogen zwischen Leben und Tod ist angespannt – nicht nur in diesem wichtigen Erdöl- und Erdgasproduktionsland.

Die Kolumne zeitenweise von Wolfgang Oeggl erscheint jeden 4. Dienstag im Monat.

22/11/2022

lost illusions

©: Severin Hirsch

Es ist wieder soweit: „Ludi incipiant – mögen die Spiele beginnen“, wie es im antiken Rom zu Beginn der ludi publici, der öffentlichen Spiele in Form von Wagenrennen, Gladiatorenkämpfe, Theatervorführungen oder Tierhetzen hieß. Panem et circenses. Brot und (Zirkus-) Spiele zur Belustigung und Besänftigung des Bürgertums. (Im Übrigen fanden auch in Graz zwischen 1778 und vermutlich 1783 im Bereich Brückenkopfgasse/Entenplatz Tierhetzen zur Unterhaltung durch Grausamkeiten auf der dortigen bürgerlichen Schießstätte statt. Diese Variante eines „Theaters der Grausamkeit“ in weitläufigem Sinne Antonin Artauds brachte uns auch den Begriff der „Hetz“ in seiner ganzen Ambivalenz und vorzugsweise auf Kosten anderer.) Die Fußballweltmeisterschaft in Katar hat ihre langen, schwarzen Schatten schon weit vorausgeworfen. Unsägliche Arbeitsbedingungen, nichtvorhandene Sicherheitsvorkehrungen und dubiose Anstellungsverhältnisse brachten diese WM schon im Vorhinein ins Kreuzfeuer der Kritik. 6500 Menschen sollen in den letzten zehn Jahren bei Bauarbeiten ums Leben gekommen sein, zehn Prozent dabei bei der Errichtung der Stadien. Katar weigert sich, Entschädigungen für die Angehörigen der verunglückten Wanderarbeiter*innen zu leisten. Dabei machen diese – freilich ohne die Staatsbürgerschaft Katars zu besitzen – rund 90% der 2,7 Millionen zählenden Gesamtbevölkerung aus. Auch das ist eine Parallele zum Römischen Reich, ebenso wie der Umstand, dass damals nur Männer das Bürgerrecht erhalten konnten. Laut Global Slavery Index gibt es gegenwärtig etwa 40 Millionen Sklav*innen, wobei 70% davon Frauen (und Mädchen) sind, zum Großteil als Sexarbeiterinnen gehalten. Katar hat für nahöstliche Maßstäbe die gesetzlichen Arbeitsbedingungen in den letzten Jahren stark verbessert, allerdings scheint für viele Arbeitgeber der gesetzliche Vollzug nicht bindend zu sein. Für die kriminelle Privatorganisation Fédération Internationale de Football Association, kurz Fifa oder Mafifa, waren jedenfalls – wie schon bei der WM 2010 in Südafrika – die „immensen“ Investitionen in Höhe einiger hundert Millionen Euros in „nachhaltige“ soziale Infrastrukturen und Fonds ein beträchtlicher Erfolg in der Verbesserung der Lebensbedingungen in der Region. Fußball (und Sport im Allgemeinen) baut Brücken und Barrieren ab, und wenn nicht das, dann schafft er zumindest Momente der Selbstvergessenheit, in denen alle Probleme des alltäglichen Lebens verschwinden können.

Mit der Fußball-WM in Katar gibt es jetzt jedenfalls wieder einen blinden Fleck auf der Landkarte, auf den wir mit Blick auf die Menschenrechtscharta mit dem Finger zeigen können – sofern wir ihn finden. Eine kleine, autokratisch regierte Halbinsel im Osten des Persischen Golfs, umgeben von Wasser und im Süden an Saudi-Arabien angrenzend, das erst 1963 ein Gesetz gegen die Sklaverei verabschiedete. Die mit 103m höchste Erhebung in der Wüstenlandschaft schafft auch die idealen Voraussetzungen, um in der Planstadt Lusail nebst dem Snow Dunes Theme Park zusätzlich eine Schihalle zu errichten. Man will ja Dubai um nichts nachstehen. Protestaktionen und Boykottaufrufe gegen das mediale Großereignis werden sowohl auf die wirtschaftspolitische und sozialpolitische Situation des Landes wie auch auf zukünftige wirtschaftliche Entscheidungsfindungen bei den Veranstaltungsortsvergaben durch die Fifa kaum Einfluss nehmen. Als drittgrößter Erdgas- und wichtiger Erdölproduzent ist Katar auf jeden Fall keines der Länder, mit dem man es sich momentan verscherzen will, vor allem hinsichtlich der Ergebnisse der Weltklimakonferenz, auf der kaum ein Konsens erzielt werden konnte und der Ausstieg aus den fossilen Brennstoffen Erdöl und Erdgas in weite Ferne gerückt ist, zumindest bis zum endgültigen Versiegen selbiger Quellen. Bis dahin werden, wie es bei Katar der Fall ist, die Autokraten der Ölländer ihre Vermögen bereits in Alternativenergien, Transportunternehmen und die (deutsche) Automobilindustrie investiert haben, um nicht – im wahrsten Sinne des Wortes – auf dem Trockenen zu sitzen. Welch Ironie, dass die Produktions- und Krisenprofiteure sich bereits nach alternativen Möglichkeiten umschauen, um ihr Vermögen weiter zu akkumulieren, während Staaten weiter an langfristige Verträge gebunden sind, auf überholte Energiequellen zuzugreifen und nicht die notwendige Flexibilität in der Umstellung auf Alternativen haben. Österreichs angedachter Ausstieg aus dem Energiecharta-Vertrag aufgrund nicht umgesetzter/umsetzbarer Reformen hätte ein 20-jähriges Nachspiel – so lange besteht nämlich die rechtliche Möglichkeit für private Energieunternehmen, Staaten nach deren Ausstieg durch Profitentgang schiedsgerichtlich zu verklagen. Die Absurdität solcher Situationen macht deutlich, dass Privatunternehmen zwar selbst keine Gesetze für sich schaffen können, dass aber Staaten und Staatenbündnisse Gesetze für Privatunternehmen erlassen, die ihnen dann selbst die Hände binden. Verbindlichen Dank. 

In Europa sollten wir uns hüten, den moralischen Fingerzeig wegen Verstößen gegen die Menschenrechte auf die Landkarte zu legen. In Katar sterben die Arbeitsmigrant*innen wegen der verheerenden Arbeitsbedingungen, während wir vom europäischen Schutzwall aus den blinden Fleck nicht sehen. Über 25000 Flüchtlinge sind seit 2014 im Mittelmeer ertrunken, aber Europa will keine Bedingungen schaffen, um der Schlepperei Vorschub zu leisten. Maximal Schubhaft als Antwort für diejenigen, die dem Tod entronnen sind und den Wall überwunden haben. Zelten mit katastrophalen Hygienebedingungen als Unterkunft steht ein unerhobener, aber nicht unerheblicher Leerstand gegenüber. Die Flüchtlingswellen werden sich nicht glätten, wir befinden uns in einer Zeit der Völkerwanderung und die globale Situation, die der Weltwirtschaftskrise als Vorabend zum Zweiten Weltkrieg schaurig ähnelt, wird die Fluchtbewegung nicht unbedingt eindämmen. Serbien erteilt touristische Visumsfreiheit für Länder, die den Kosovo nicht anerkennen und wird dadurch zum Trittbrettland für weitere Flüchtlingsströme – allen voran aus Indien. Gleichzeitig erhöhen sie dadurch den Druck auf die EU, ihre Forderungen bezüglich einer Republika Srpska und eines EU-Beitritts durchzusetzen. Wir sollten uns trotz aller Querelen und Widrigkeiten nicht wie Spielbälle zwischen den Akteur*innen auf einem Feld sehen, die ohnmächtig und mit gebundenen Händen hin und her getreten werden. Die Geburtsurkunde bindet uns an gewisse Rechte und Pflichten, doch wir wurden frei geboren und haben die Möglichkeit, auch frei zu sterben. Die iranischen Frauen und die russische Kriegsgegnerschaft gehen zur Erlangung ihrer (Meinungs-) Freiheit derzeit beispielhaft und furchtlos voran. Auch wenn das Leben derzeit (k)eine Hetz ist, sollten wir weder uns noch andere hetzen.

Im 11. Jahrhundert entstand in Okzitanien eine christlich-religiöse Bewegung, die sich gegen die ausufernde und wuchernde Profitgier des katholischen Adels und des Klerus im Zuge der zunehmenden Verstädterung und Geldwirtschaft richtete. Die Katharer, die „Reinen“, waren eine sich rasch über Süd- und Westeuropa ausbreitende Glaubensgemeinschaft mit flachen Hierarchien, verachteten die Dogmen und den opulenten Lebensstil des Klerus und pflegten einen asketischen Lebenswandel unter Zurückweisung von Privatbesitz. Der frömmelnden katholischen Herrschaft war diese unprätentiöse Form der Glaubensausübung bald ein Dorn im Auge und so wurde diese als häretisch bezeichnete Bewegung über den Albigenserkreuzzug und die Inquisition bis um 1400 endgültig ausgelöscht. Der Herr braucht seine Knechte (und seine Knete) und die Knechte ihre(n) Herren. Selbstorganisation und das Vorleben anderer Lebensstile und Anschauungsweisen innerhalb eines konstruierten, angstbasierten Herrschaftsgefüges waren seit jeher schon ketzerische Verfehlungen. Auflehnung gegen die meinungsbildende Obrigkeit durch Bedürfnislosigkeit, Bescheidenheit, Einfachheit, Skeptizismus und Unabhängigkeit von äußeren Zwängen war der Weg der Kyniker, einer davon Diogenes von Sinope (der Philosoph aus der Tonne, der angeblich Alexander dem Großen befahl, ihm aus der Sonne zu gehen), der später auch den Stoizismus beeinflusste. Stoische Ruhe und Zynismus sind auch Antworten auf die großen Fragen unserer Zeit. Der Stoiker Epiktet, der im ersten nachchristlichen Jahrhundert als Sklave von Kleinasien nach Rom kam, wo er seine Freiheit erlangte, sich der Philosophie zuwandte und unterrichtete, vereinte in seinem Denken den kynischen und stoischen Zugang. „Über das eine gebieten wir, über das andere nicht. Wir gebieten über unser Begreifen, unsern Antrieb zum Handeln, unser Begehren und Meiden, und, mit einem Wort, über alles, was von uns ausgeht; nicht gebieten wir über unsern Körper, unsern Besitz, unser Ansehen, unsere Machtstellung, und, mit einem Wort, über alles, was nicht von uns ausgeht. Worüber wir gebieten, ist von Natur aus frei, kann nicht gehindert oder gehemmt werden; worüber wir aber nicht gebieten, ist kraftlos, abhängig, kann gehindert werden und steht unter fremdem Einfluss. Denk also daran: Wenn du das von Natur aus Abhängige für frei hältst und das Fremde für dein eigen, so wird man deine Pläne durchkreuzen und du wirst klagen, die Fassung verlieren und mit Gott und der Welt hadern; hältst du aber nur das für dein Eigentum, was wirklich dir gehört, das Fremde hingegen, wie es tatsächlich ist, für fremd, dann wird niemand je dich nötigen, niemand dich hindern, du wirst niemanden schelten, niemandem die Schuld geben, nie etwas wider Willen tun, du wirst keinen Feind haben, niemand wird dir schaden, denn du kannst überhaupt keinen Schaden erleiden.“ (Epiktet, Handbüchlein der Moral. Stuttgart 2018. S. 8f.)

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