03/12/2009
03/12/2009

Arch. DI Ferdinand Certov (li) und Direktor Dr. Joachim Gruber im Gespräch mit GAT. Foto: J. Schiffer

Arch. DI Ferdinand Certov (li) und Direktor Dr. Joachim Gruber im Gespräch mit GAT. Foto: J. Schiffer

Der Neubau Gästehaus Schloss Retzhof ist umfassend barrierefrei. Planung: Arch. DI Ferdinand Certov, Graz. Fotos: Paul Ott

Blick ins Foyer des Gästehauses

Blick ins Foyer des Gästehauses

alle Gästezimmer sind barrierefrei...

... ebenso die Sanitärräume. Fotos: Paul Ott

Lageplan (zur Vergrößerung auf das Bild klicken)

Der Internationale Tages der Menschen mit Behinderung am 3. Dezember wurde im Jahr 1982 von den Vereinten Nationen eingeführt, um das Bewusstsein der Öffentlichkeit für die Probleme von Menschen mit Behinderung wach zu halten. Anlässlich des diesjährigen Gedenktages liegt die Präsentation eines modernen behindertengerechten Bauprojekts in der Steiermark mit Signal- und Vorbildwirkung nahe.

Im Juni dieses Jahres wurde das neu errichtete, umfassend barrierefreie Gästehaus des Landesbildungshauses Schloss Retzhof bei Leibnitz feierlich eröffnet. Das moderne Gästewohnhaus nach den Planungen von Architekt DI Ferdinand Certov hat sich in der kurzen Zeit seines Bestehens bereits zu einem überregionalen Vorzeigemodell für behindertengerechtes Bauen entwickelt. Dr. Joachim Gruber, Direktor des Retzhof, steht mit voller Überzeugung hinter dem Projekt, mit dem er bei der Landesimmobiliengesellschaft LIG auf offene Ohren stieß: „Umfassend barrierefrei bedeutet in unserem Fall, dass wir wesentlich mehr an Auflagen umgesetzt haben, als es die Mindeststandards an Ö-Normen vorsehen, wie es bei vielen öffentlichen Gebäuden leider immer noch üblich ist. Wir wollen für alle Gruppen offen sein, daher haben wir es angestrebt, eine durchdachte Infrastruktur zu schaffen, damit Menschen mit Behinderung unser Bildungshaus und seine Einrichtungen möglichst selbstständig nutzen können.“
Am EU-weiten Ausschreibung für den Wettbewerb zur Errichtung eines „barrierefreien Gästehauses“ nahmen insgesamt 75 Architekturbüros teil, nicht wenige davon aus dem europäischen Ausland (v.a. Deutschland), erklärt Gruber. Das klar strukturierte und übersichtliche Konzept von Ferdinand Certov konnte sich in der Meinung der Jury gegen das große Feld von Konkurrenten schließlich durchsetzen, die in der Bewertung u.a. befindet: „Der gut proportionierte Baukörper ist sehr exakt in die umgebende städtebauliche Situation eingepasst (…) insbesondere der Stimmungsgehalt der öffentlichen Zonen wird sehr positiv hervorgehoben; die Orientierbarkeit und natürliche Wegeführung ist in einer hervorragenden Weise gegeben.“ Entscheidend für ein gelungenes Projekt ist allerdings, so Gruber, der reibungslose Kommunikationsprozess mit einem Architekten, der wie Ferdinand Certov in vielen kleinen Details auf die Wünsche des Bauherrn verständnisvoll eingegangen ist, während er selbst wiederum eine große Offenheit für mutige architektonische Konzepte mitbrachte, wie beide übereinstimmend betonen: „Die Chemie zwischen uns stimmte ganz einfach von Anfang an.“

Das neue zweigeschossige Gebäude, eine Holzriegelkonstruktion, deren Außenwände mit Lärchenholz verschalt sind, schließt sich im rechten Winkel an die nordöstliche Fassade des Schlosses Retzhof an. Ein verglaster Gang verbindet das neue Gästehaus in Höhe des 1. Stockes mit dem Schloss, sodass die Seminarräume auch für RollstuhlfahrerInnen ohne Umweg zugänglich sind. Gemeinsam mit einem älteren Gästehaus ist so neben dem historischen Schlossinnenhof eine zweite, offenere Hoflage unter einer riesigen Platane entstanden, die durch die großzügig überdachte Terrasse vor dem Foyer in ihrem Charakter als erholsamer und zugleich geschützter Außenbereich zusätzlich betont wurde. Den besonderen Reiz der Anlage erklärt sich Gruber aus der harmonischen Verbindung der historischen Substanz des Schlosses mit einem modernen, sich nicht in den Vordergrund drängenden Gästetrakt: „Früher stand an der Stelle des Gästehauses ein hölzerner Stadel in ähnlichen Proportionen.“

Neben einem großen Foyer und einem Backoffice bietet das kompakte Gästegebäude 21 geräumige Einzel- und 6 Doppelzimmer mit barrierefreien Sanitärräumen. Die farbliche und haptische Kontrastwirkung zwischen einzelnen Elementen, wie dunklen Türen, ertastbaren Zimmernummern usw., erleichtert Menschen mit Sehbeeinträchtigung die Orientierung, während bewegungsbeeinträchtigte Personen niedrig montierte Schalter, absenkbare Kleiderbügel, erhöhte Betten und mittels Hebel verstellbare Flachbildschirme zu schätzen wissen. Die schwebenden Möbel und Ablagen ermöglichen eine große Bewegungsfreiheit und lassen auch für RollstuhlfahrerInnen kein Gefühl der Beengtheit aufkommen. Im großzügigen Gangbereich im ersten Stock sorgen die durch Oberlichten erzeugte helle Atmosphäre und farbige Flächen mit den Porträts bedeutender Persönlichkeiten für frische Akzente.
Im Unterrichtstrakt des alten Schlosses wurden alle Seminarräume akustisch vermessen und mit Akustikdecken versehen, um Hörbehinderten optimale Bedingungen zu bieten. Die Außenbereiche der gesamten Liegenschaft sind mit einem Leitsystem auf den steinernen Bodenplatten versehen, um den Blinden eine bessere Orientierungshilfe zu geben. Für die praxisgerechte Gestaltung der baulichen Maßnahmen wurde die Expertise von „easy entrance“ (Peter Milbradt von der Servicestelle für eine barrierefreie Wirtschafts- und Arbeitswelt) in Anspruch genommen. Trotz der vielen aufwändigen Adaptionen blieb die Gesamtbausumme mit etwas unter 2 Mio. Euro im vorgegebenen Rahmen, ebenso wie die Bauarbeiten, die innerhalb eines Jahres abgeschlossen werden konnten.

PROJEKTDATEN:
Standort: Dorfstraße 17, A-8430 Leitring/Leibnitz
Bauherr: LIG Steiermark
Planung: CERTOV.ARCHITEKTEN - Arch. DI Ferdinand Certov
Mitarbeit: DI Birgit Spitzer, DI Claudia Klar

Wettbewerb: 2007
Baubeginn: 2008
Baufertigstellung: 2009

Grundstücksfläche: 6 423 m²
Bruttogeschoßfläche: 1 217 m²
Bebaute Fläche: 740 m²
Nutzfläche: 1010 m²
Umbauter Raum: 4 242 m²

Verfasser/in:
Josef Schiffer, Bericht
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