06/07/2014

gat.st veröffentlicht in der Serie young theory theoretische Diplomarbeiten und Dissertationen, die im Zusammenhang mit Architektur, Städtebau und Umwelt stehen.

Das architektonische Manifest von Florian Engelhardt ist 2014 als Masterarbeit an der TU Graz entstanden. Die Arbeit wurde von Anselm Wagner, Vorstand des Instituts für Architekturtheorie, Kunst- und Kulturwissenschaften betreut.

06/07/2014

Das architektonische Manifest

©: Florian Engelhardt

„[A]t the beginning of every project there is maybe
not writing but a definition in words – a text – a concept,
ambition, or theme that is put in words, and only at the moment
that it is put in words can we begin to proceed,
to think about architecture; the words unleash the design [...].“

Rem Koolhaas,
Why I wrote Delirious New York and Other Textual Strategies,
in: Any 1/0, 1993, 42-43

Für viele berühmte Persönlichkeiten der Architektur, wie Bruno Taut, Le Corbusier, Mies van der Rohe, oder auch Robert Venturi und heute Rem Koolhaas, stellt das Schreiben einen der elementarsten Faktoren ihrer Architekturproduktion dar.
Das architektonische Manifest ist der stärkste Ausdruck des Bezugs von Architektur und Literatur und verdeutlicht wie keine andere Textform den Stellenwert, den das Schreiben in der Architektur einnimmt. Da die Architektur eine adäquate wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Textform des Manifests bisher zur Gänze vermissen lässt, stellt meine Arbeit den ersten gattungsspezifischen Definitionsversuch des architektonischen Manifests dar und fragt nach seinem heutigen Potenzial.

Seit Beginn des 20. Jahrhunderts bedienen sich Architekten dieser Textform, um ihre Vorstellung von Architektur klar und deutlich zu postulieren. Besonders die Klassische Moderne der 1920er- und die Nachkriegsmoderne der 1960er-Jahre brachte eine Vielzahl an Manifesten in der Architektur hervor. In den letzten 20 Jahren hat die Zahl der veröffentlichten Manifeste in unserem Fachbereich stark abgenommen – jedenfalls derjenigen mit Substanz, d.h. einer klaren Position als Ausdruck eines kritischen, zeitrelevanten Ansatzes, die der eigentlichen Bedeutung des Manifests gerecht werden. Der Begriff des Manifests wird nach wie vor oft gebraucht, ja vielmehr als Marketing-Methode missbraucht. Als Manifeste deklarierte individuelle Meinungen und Statements haben im Kommunikationsdschungel einer Welt von Email, Chat, Facebook und Twitter die ernsthafte Auseinandersetzung mit der Textform des Manifests ersetzt.
Zudem ist im Kontext der allumfassenden und weit über den wirtschaftlichen Faktor hinausgehenden Abhängigkeit vom Paradigma des Neoliberalismus festzustellen, dass wir uns in der Architektur mit einer Krise der Alternative konfrontiert sehen, in der klare Positionen und Haltungen in Form von alternativen Projekten dem Dialog, dem Kompromiss und dem Opportunismus gewichen sind. Als Ausdruck einer Haltung par excellence musste somit auch das Manifest weichen. Zweifelsohne besteht ein gewisser Zusammenhang zwischen der vermeintlichen Manifestlosigkeit und der aktuellen (architektur)politsichen Situation. Einer der Wege, um dem Mangel an Autonomie in der Architektur abzuhelfen, kann jedoch die Textform des architektonischen Manifests sein.
Ein gutes Manifest zu schreiben verlangt viel Fingerspitzengefühl, sprachliches Geschick sowie eine gesunde Mischung aus Kalkül, Leidenschaft und Mut. Der richtige Einsatz dieses vielversprechenden (Schreib)Werkzeugs der Architektur erfordert allerdings zunächst eine analytische Auseinandersetzung mit der Textform.

Bei der typologischen Annäherung an das architektonische Manifest bildet die Dualität der „Offenen Form und Festen Struktur“ den Kern meiner Arbeit. Dementsprechend gehen in dieser Theorie zwei sich vermeintlich widersprechende Elemente eine interessante Symbiose ein. Die These der Dualität des architektonischen Manifests versucht der Komplexität des Manifests als Textform bestehend aus seinen Qualitäten der formalen Flexibilität und der festen funktionalen Eigenschaften einen Rahmen zu geben und stellt eine Erklärung für die Aneignung des Manifests seitens der Architekten dar.
Das Manifest ist durch seine formale Flexibilität in der Lage, sich immer wieder anzupassen, zu verändern und wird somit zum zeitlosen Medium. Die Vielfalt dieser „Offenen Form“ zeigt sich zum Beispiel durch – nicht zwangsläufig vorhandene – formale Eigenschaften, wie dem persönlichen Element, dem aggressiven Ton sowie grafischer und rhetorischer Mittel. Die Eigenschaften der „Festen Struktur“ sind hingegen eher funktionaler Natur. Der Ausdruck von Prospektivität und Alternativität sind ebenso definitionsimmanente Eigenschaften des Manifests, wie seine Programmatik, Instrumentalität und Performativität. Als wesentlichste Eigenschaft des architektonischen Manifests stellt sich der Ausdruck einer klaren Haltung heraus. In bestimmender Manier wird diese präskriptiv und kompromisslos formuliert und niemals argumentativ untermauert. Diese Eigenschaften machen das architektonische Manifest als Textform und Werkzeug plausibel und greifbar, sind doch auch sie deckungsgleich mit vielen Eigenschaften des Architekturentwurfs.
Die Untersuchung des architektonischen Manifest bestätigt nicht nur, dass es sich hierbei um eine eigenständige Manifestgattung handelt, sondern zeigt durch die Qualitäten der Dualität, dass es als architektonisches Ausdrucksmittel dem Architekten durch sein entwerferisches und strukturelles Moment ein nützliches (Schreib-)Werkzeug auf dem Weg zu alternativen Architekturen sein kann, da deren Grundlage die Formulierung einer klaren Position ist.

Das Manifest ist ein Genre, das seit jeher bedingt durch seine Entwicklungsgeschichte zwischen politisch motivierten, prospektiven Forderungen, einem künstlerisch-kreativen Ausdruck und der pragmatischen Umsetzung seiner formulierten Ziele oszilliert. Die Wichtigkeit des Manifests in der Architektur begründet sich in eben diesem Spannungsfeld, denn auch die Architektur ist eine Disziplin, die sich zwischen (gesellschafts)politischen, künstlerischen und technischen Aufgabengebieten bewegt. Um Architektur zu machen, muss man Architektur denken. Um Architektur zu denken, muss man Architektur schreiben. Doch das geht niemals ohne eine klare Haltung.
Das architektonische Manifest ist in diesem Zusammenhang eines der wichtigsten und interessantesten (Schreib-)Werkzeuge, die wir haben. Wir Architekten sollten uns darüber bewusst werden und es nutzen – hier, jetzt!

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