06/12/2003
06/12/2003

Bratislava Einkaufszentrum "Slimák" von Ivan Matusik

BAUEN IM UMBRUCH

Die Architektur der Slowakei machte im letzten Jahrhundert viele Phasen durch: vom Urbanismus über das "goldene Zeitalter", kommunistische Planungskollektive bis hin zum Pluralismus der freien Marktwirtschaft. Die Schau "Architektur Slowakei - Impulse und Reflexion" im Wiener Ringturm bietet einen vielfältigen Überblick.

Bis zum Ersten Weltkrieg verband eine Straßenbahn Wien und Bratislava, das als Vorstadt der k. und k. Residenz galt. Die Slowakei zählte zu Ungarn, der Agrarstaat mit seinen dörflichen Strukturen erlebte einen enormen Urbanisierungsschub. Bratislava, Koice, ilina und andere Städte wurden ausgebaut. Prägende Einflüsse kamen aus Wien, Budapest, Prag, Brünn, von der Sezession, Otto Wagner und dem Tschechen Jàn Kotera, Inspirationsquelle des slowakischen "Rondo-Kubismus."

Der in Ungarn kultivierte Nationalstil schlug sich in Ödön Lechners "blauer Kirche" St. Elisabeth (1908) und Istvàn Medgaszays Kirche in Mula (1910) nieder. Dieser erste Stahlbetonbau der Slowakei folgt innen Wagners Raumkonzept, außen zeigt er sich in romanisch inspiriertem ungarischem Stil. Moderne Konstruktion und Grundrisslösung hinter stilgebunden dekorierten Fassaden waren typisch. An der Wiege slowakischer Architektur steht Gründervater Duan Jurkovic, der in Wien studierte und ein Büro in Brünn hatte. Er wollte den Geist von Ort und Mensch erfassen, traditionelle mit modernen Elementen verknüpfen, als Spitzenwerk gilt das Vereinshaus in Skalice (1905). Jurkovic verband slowakisches Kunsthandwerk mit dem Wissen um die Architektur Europas.

Seine liebevoll aquarellierten Originalperspektiven bilden den Anfang der Schau "Architektur Slowakei - Impulse und Reflexion" im Wiener Ringturm. Die baulichen Höhepunkte zeigen ebenso das Nebeneinander verschiedener Einflüsse wie die starke Verflechtung von Politik und Architektur.

Die erste Tschechoslowakische Republik (1919) stärkte das Selbstbewusstsein, weltoffener Optimismus schuf ein produktives künstlerisches Klima, das Architekturmagazin Forum erschien in Deutsch/Ungarisch/Slowakisch, die Moderne gedieh prächtig. Die 20er- und 30er-Jahre gingen als "goldenes Zeitalter der Architektur" in die Annalen ein. Die Synagoge in ilina (1930) von Peter Behrens, dessen AEG-Turbinenhalle 1909 die neue Zeit einläutete, ist eine Sakralbau-Ikone. Die Brünner Moderne manifestierte sich in Werken von Bohuslav Fuchs und Vladimir Karfík, dem federführenden Planer des Bata-Imperiums. Er bereicherte Bratislava um ein elegantes, städtisches Kaufhaus neuen Typs. Ein strenger Eckkubus auf gläsernem Sockel, das Lichtband mit charakteristischem Schriftzug ist ein frühes Beispiel von Corporate Identity. Mit dem Wohn-und Geschäftshaus "Manderla" (1934) schuf Christian Ludwig mit Emerich Spitzer ein Meisterwerk des Funktionalismus. Unweit ist die Stadtsparkasse (Juraj Tvaroek, 1931) mit der ersten vorgehängten Fassade, die neuen Bauten am Ring von Bratislava repräsentierten stolz den jungen Staat.

Es muss möglich sein, durch richtige Organisation, Planmäßigkeit und Wahrheit die Menschen zum Glück zu führen", schrieb 1931 Fridrich Weinwurm, ein Pionier der slowakischen Moderne. Ausgebildet in Dresden und Berlin, engagierte er sich stark im sozialen Wohnbau. Mit Ignàc Vecsei plante er u.a. die Laubenganghäuser "Unitas" (1932) und die Siedlung "Novà doba", programmatisch "Neue Zeit" getauft. Die Privathäuser von Weinwurm/ Vécsei zeigen den starken Wien-Bezug. Das Interieur der Villa Lengyel gestaltete Josef Hoffmann, das der Villa Pfeffer Ernst Schwadron. In Wien plante der Slowake Siegfried Theiss mit Hans Jaksch u.a. das berühmte Hochhaus in der Herrengasse, Sandleiten- und Quarinhof.

Slowakische Protagonisten der Moderne sind Klement ilinger und Emil Bellu. In seiner eindrucksvollen Kolonnadenbrücke und Badeanlage in Piet'any (1933) fügt sich die Struktur der Stahlbetonkonstruktion in die Flusslandschaft, mit der Heilanstalt "International" ein Spitzenensemble des Tourismusbaus. Bade- und Kurorte hatten Hochkonjunktur, das Heilbad Sliac (Rudolf Stockar) und die weltberühmten Sanatorien der Hohen Tatra (B. Fuchs, Jaromir Krejcar) entstanden. Bellu setzte sich sehr für die Gründung der Technischen Hochschule ein, 1947 gab es die erste Architekturfakultät, heute sind es einige.

Der Kampf um Identität prägt Geschichte und Bauten der Slowakei, viele Gedenkstätten bezeugen es. Jurkovic' Grabmal für General tefànik (1929) am Bradlo krönt einen Karpatenhügel. Mahnend ragen Stelen aus einem Natursteinsockel ums zentrale Denkmal. Im "Tiso-Staat" formierte sich eine schwache Slowakei von Hitlers Gnaden, es kam es zu Massenemigration und Ermordung der Juden, einer davon war Fridrich Weinwurm. Der gravierende Verlust einer reichen jüdischen Kultur wirkte lang nach. Am 29. 8. 1944 kam es im Slowakischen Nationalaufstand gegen Diskriminierung, Ermordung der Juden und Kollaboration des Regimes mit Hitler zu einer der größten Widerstandsaktionen Europas. Das Denkmal dazu, das 1970 in Banskà Bystrica als Museum und Veranstaltungsort gebaut wurde, zählt zu den besten Architekturleistungen im Kommunismus. Duan Kuzma und der Bildhauer Jozef Jankovic gaben ihm eine eindringlich symbolische Form. Wie von einem Keil in zwei versetzte Teile getrennt, schwebt eine organische Schale über dem geraden Sockel.

In der Ära des Kommunismus (1948-89) entwickelten Planungskollektive aus Datenmaterial typisierte Entwürfe für spezielle systemkonforme Aufgaben, gigantische Plattenbausiedlungen wie Petralka entstanden. Bauverzögerungen und andere Tricks ermöglichten selbst damals Erstaunliches, das Verlagsgebäude der Prawda (Martin Kusý) brauchte zehn Jahre. Heftige Kritik erregte das spiralförmige Einkaufszentrum "Slimàk" (Schnecke) von Ivan Matuik, doch man baute es und es wirkte impulsgebend. Nach der Expo in Brüssel 1958 nahmen die Architekten wieder vermehrt internationale Tendenzen auf, der Eiserne Vorhang wurde durchlässig, man nutzte die Lage zu informellen Kontakten ins Ausland. Der Landwirtschafshochschulkomplex in Nitra (Rudolf Minovsky, Vladimir Dedecek, 1966) erinnert an Oskar Niemeyers Brasilia. Das Krematorium mit Urnenhain in Bratislava von Ferdinand Milucky (1962-67) ist ein Spitzenwerk, in nordischer Eleganz komponierte er es aus mehreren Scheiben mit Blicken in den Wald als angemessenen, kontemplativen Weg. Das brutale Ende des Prager Frühlings resultierte in starrer Planwirtschaft und Stagnation.

Der Fall des Eisernen Vorhangs 1989 warf alle bestehenden Strukturen um. Der freie Markt brachte Investoren, neue Planungsprozesse und Typen wie Shoppingcenter, Banken, Kirchen. Die Zeit der Kollektive war zu Ende, Architekten mussten sich neu definieren. Nach kurzer Orientierungslosigkeit besann man sich seiner modernen Wurzeln, restauriert nun umsichtig Altes und setzt wieder internationale Trends im slowakischen Kontext um. Beliebtes Experimentierfeld ist das Einfamilienhaus. Ein "Idealhaus" planten David Kopecký und Jàn Studený ihrem Bauherrn in Stupava, die Idee der Röhre realisierte Ivan Matuik im "Elipsion". Der Wohnbau Kramàre (Peter Moravcik, Karol tassel, Juraj usan, Lucia almanová) reflektiert mit Läden, Balkonen, Flugdach und klarer Eckartikulation die Moderne. Viel kreativen Freiraum gibt der mit 300 Kirchen boomende Sakralbau. Von heimeliger Dörflichkeit, symbolträchtigem Formenreichtum bis zu klarer Geometrie ist alles da. Ökonomisch, klar und transparent plante Martin Kvasnica die jüdische Garküche, von ihm ist auch das Chatam Sofer Memorial am jüdischen Friedhof Bratislava. Kein Revival vom "goldenen Zeitalter", aber ein kräftiges Lebenszeichen.

Von
Isabella Marboe(ALBUM/ DER STANDARD, Printausgabe, 6./7./8.12.2003)

Ausstellung im Ringturm: "Architektur Slowakei: Impulse und Reflexion".

Bis 29. 2. 2004
Wiener Städtische Versicherung
Ausstellungszentrum im Ringturm
Schottenring 30
1010 Wien
Mo- Fr, 9-18 Uhr
Do, 9-19.30 Uhr
freier Eintritt

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