21/06/2003
21/06/2003

DER STANDARD, 20. Juni 2003

Cliffhanger

Die temporäre Zweitfassade des Palais Thienfeld am Grazer Südtirolerplatz ist ein bewohntes Baugerüst. Architekturstudenten haben es in eine gemütliche Sommerwohnung verwandelt

Es gibt Wohnräume, die ihren Benutzern einiges abverlangen. Zum Beispiel, dass diese einigermaßen schwindelfrei sind. Das ist nämlich eine zentrale Voraussetzung, wenn man den Aufenthalt in einem Ruhe- und Aussichtsraum ohne Wände und etwa zehn Meter über dem Boden wirklich genießen will.

Das luftige Wohnzimmer ist Teil einer Fassade, auf der bis Ende Juni 40 Studierende vom Institut für Wohnbau und Entwerfen der Wiener TU leben. Richtig gelesen: Sie bewohnen eine Fassade bzw. das Stahlgerüst vor selbiger. Und zwar eines, das sie selbst geplant, aufgebaut und eingerichtet haben: mit einer Küche, in der abends gemütlich gegrillt und gegessen wird (zweite Ebene), zwei Schlafebenen, wo man sich nächtens auf dem weich gepolsterten Boden (dritte Ebene) oder in kuscheligen Schlafröhren (einen "Stock" höher) ausstrecken kann. Und da sich die Fassadenwohnung mitten in der europäischen Kulturhauptstadt Graz und nicht in irgendeiner Wildnis befindet, gibt es natürlich auch eine Duschkabine sowie eine funktionstüchtige Toilette mit Wasserspülung auf der fünften (!) Ebene.

Wie gesagt, es ist eine Wohnung, die an ihre Nutzer Forderungen stellt. Auch dass diese ihrem Bedürfnis nach Rückzug aus dem öffentlichen Raum in eine abgeschirmte Privatheit nicht unumschränkt nachgeben. Können sie auch gar nicht, da es ja keine Wände gibt. Der Kontakt zu den Menschen, die unten auf der Straße am Palais Thienfeld, an das sich das Wohngerüst klammert, Richtung Mariahilferplatz oder Annenstraße vorbeigehen, ist jedenfalls ein ungehinderter: Das öffentlich gemachte Leben auf dem Gerüst irritiert, amüsiert, provoziert spontane Besuche und Gespräche. Die sonst so sorgsam getrennten Lebenswelten des Öffentlichen und des Privaten verschwimmen. "Die Fassade ist ja total einsehbar, die Leute leben hier wie in einem großen Schaufenster oder einem Zoo", beschreibt Peter Fattinger die gezielte Grenzverwischung. Gemeinsam mit seinem Architektenkollegen Michael Rieper hat er die Idee der bewohnten Fassade entwickelt. Das architektonische Experiment ist einerseits Teil des Projekts "SELFWARE. politics of identity", das im Rahmen von Graz 2003 stattfindet, andererseits eine praxisnahe Lehrveranstaltung für die Architekturstudenten.

Am Anfang des Projekts namens "surface" standen die Fassade und die Frage nach der durch sie vermittelten Identität. Was sagt eine Fassade - also jene Oberfläche, mit der man sich der Umwelt präsentieren will - über die Identität eines Hauses aus? Welche Funktionen - außer der üblichen, nämlich Prestige zu generieren - kann man ihr geben? Auf der Basis dieser Überlegungen gewann der Plan vom Bau einer neuen, mit unterschiedlichsten Funktionen ausgestatteten Fassade allmählich Kontur. Das Wohngerüst als Fassade der eigentlichen Fassade des Palais sollte seine Aufgaben in einer Weise offen legen, die die unterschiedlichen Identitäten ihrer Bewohner und Konstrukteure in die Außenwelt transportieren.

Anders als bei den üblichen universitären Entwurfsübungen musste hier nicht nur ein Bauwerk am PC geplant, sondern auch 1:1 realisiert werden. "Die Studierenden", so Peter Fattinger, "konnten bei dieser Arbeit erfahren, wie es ist, wenn ein großes Team ein kleines Haus baut. Hier haben sie hautnah erlebt, wie wichtig organisierte Arbeitsteilung, Kooperation, Flexibilität und Improvisationsvermögen in ihrer künftigen beruflichen Praxis sind." Warum er sie dann nicht einfach ein Gartenhaus hat bauen lassen? "Weil das Projekt ja auch einen gewissen Öffentlichkeitscharakter haben sollte. Über Architektur wird in Österreich ohnehin viel zu wenig geredet!" Aber warum nun gerade ein Fassadengerüst als Wohnraum? "Weil so ein Gerüst ein sehr geschicktes modulares System ist - eine flexible Matrix, in der man sich bewegen kann!" Um in diesem Rahmen eine funktionstüchtige Wohnung unterzubringen, bildeten die angehenden Architekten Teams für die unterschiedlichen Bereiche von der Küche bis zu den Sanitäranlagen. Fünf Tage hat der Gerüstaufbau gedauert, eine Woche lang wurden dann die in Wien vorgefertigten Teile eingebaut.

Nun, da die Auf- und Einbauarbeiten erledigt sind, darf endlich nach Herzenslust gewohnt werden. Hätte die Wohnung Türen, stünden sie für Besucher sperrangelweit offen - vorausgesetzt, sie bestätigen durch ihre Unterschrift, dass sie für ihren Aufstieg in die ungeschützte Welt des öffentlichen Wohnens selbst die Verantwortung übernehmen. Obwohl - gewisse Grenzen muss auch die allergrößte Offenheit haben. Zumindest wenn es ums Essen geht: "Die Küche haben wir dann doch lieber eine Ebene über dem Lounge-Bereich angesiedet", schmunzelt Fattinger. "Da kommt nicht jeder automatisch an ihr vorbei . . . Wir wollen ja keinen Restaurantbetrieb auf unserem Gerüst aufmachen!" Hungrige Besucher, die den Aufstieg zur Küche wagen, sind gegen eine kleine Spende trotzdem mit dabei.

Apropos Spende: Ohne Sponsoren hätte das Projekt nicht realisiert werden können. "Wir haben vorwiegend mit Materialien gearbeitet, die wir geschenkt bekamen", berichtet Michael Rieper. "Natürlich waren das eher billige Werkstoffe, aber wir haben bewiesen, dass man auch damit unter Nutzung entsprechender Arbeitsmethoden alles bewerkstelligen kann." So haben halt die Schlafröhren einen kleineren Durchmesser als geplant, aber auch damit lässt es sich gut leben: Wer zur Platzangst neigt und ein Gemeinschaftslager nicht scheut, bettet sich eben eine Etage tiefer.

Wichtigstes Material sind neben dem Stahlgerüst Holzspanplatten, die im Lounge- und Schlafbereich dank eines edlen Spenders mit Schaumstoff gepolstert werden konnten. Das erfolgreiche Sponsoring senkte die Projektkosten auf bescheidene 7000 Euro. Doris Griesser []

Bis 28. Juni. Palais Thienfeld - Südtirolerplatz, Graz

Verfasser/in:
20 06 03
red
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