09/05/2018

Der Wohnbau des Modell Steiermark – Teil 1
Andrea Jany zur Dissertation, die sie im April 2015 an der TU Graz fertigstellte.

Die Arbeit wurde von Anselm Wagner, Univ.-Prof. Mag.phil. Dr.phil., Institut für Architekturtheorie, Kunst- und Kulturwissenschaften, TU Graz und Dieter Reicher, Assoz. Prof. Mag. Dr.rer.soc.oec, Institut für Soziologie, Karl-Franzens-Universität Graz betreut.

Die Dissertation liegt am Institut für Architekturtheorie, Kunst- und Kulturwissenschaften, in der Bilbliothek der TU Graz sowie am Institut für Soziologie der Karl-Franzens-Universität in Graz auf. 

Jovis veröffentlicht die Forschungsarbeit im Rahmen der Buchreihe architektur + analyse

09/05/2018

Wohnbau Alte Poststraße, 1981–1984

Architektur: Szyszkowitz . Kowalski + Partner©: Andrea Jany

Andrea Jany, Dissertation

„Nicht mehr anonyme Wohnbauträger bestimmen, wo und wie gebaut werden soll, sondern die Menschen, die sich zusammenfinden und zu Wohngemeinschaften zusammenschließen. (...) Der Wohnungswerber bestimmt, seine Rolle als Bittgänger gehört der Vergangenheit an. Die besten Architekten engagieren sich im Wohnungsbau (...). Ignoranten und Wucher haben keine Chance. Wohnbauwettbewerbe, an denen sich die besten Köpfe beteiligen, bestimmen das Planungsgeschehen, Schubladenpläne und ihre Vervielfältigung sind verfemt.“ (Zielvorstellungen des Arbeitskreises 12 – Bauen und Wohnen, Modell Steiermark, 1984)

Abstract
Der weltweite Urbanisierungstrend und der damit einhergehende Mangel an bezahlbarem, zufriedenstellendem Wohnraum betrifft alle Industriestaaten – auch Österreichs Großstädte. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts lieferte der Wohnbau im Rahmen des sogenannten Modell Steiermark Lösungen zu dieser Herausforderung, indem experimentell mit innovativen Konzepten neue Maßstäbe für den Massenwohnungsbau gesetzt wurden. Aufgabe dieser Forschungsarbeit ist es, den Wohnbau des Modell Steiermark geschichtlich aufzuarbeiten. Darüber hinaus erfährt dieser Wohnbau eine Beurteilung aus heutiger Sicht der Bewohner. Mittels einer empirischen Studie wurde der Grad der Wohnzufriedenheit erhoben. Hierfür wurden zu den partizipativ errichteten sozialen Wohnbauten benachbarte konventionell errichtete soziale Wohnbauten herangezogen und zeitgleich untersucht. Die Ergebnisse zeigen, dass der Grad der Wohnzufriedenheit in den partizipativen Wohnbauten im Vergleich zu den konventionellen Wohnbauten leicht erhöht ist. Ein wesentlicher Unterschied im Vergleich der beiden Wohnbautypologien zeigte sich in der sozialen Einbindung der Menschen in ihre Wohnumgebung. Die Ergebnisse dieser Arbeit leisten einen Beitrag zur historischen Aufarbeitung und zur Gestaltung und Ausformulierung zukünftiger städtischer Entwicklungen.

Städte boomen
Städte sind lebendige Orte mit dem Ziel einer sozialen und ökonomischen Besserstellung des Einzelnen. Um diesem Ziel gerecht zu werden, müssen die Städte von heute nicht nur wirtschaftlich, rechtlich und politisch funktionieren, sondern auch eine lebenswerte Umgebung und leistbaren Wohnraum bereitstellen. Aber gerade das Letztere ist durch den Urbanisierungstrend immer schwieriger zu finden. Bis zum Jahr 2030 wird ein weltweiter Anstieg auf 5,5 Millionen städtischer Bevölkerung prognostiziert. Dieser Zuwachs stellt urbane Regionen weltweit vor Herausforderungen. 

Speziell die Bereitstellung von ausreichend Wohnraum stellt eine Schlüsselfunktion im Zusammenleben der städtischen Bevölkerung dar. Neben der Deckung des quantitativen Bedarfs kann die Berücksichtigung der qualitativen Bedürfnisse der Bewohner durch ihre Einbeziehung in Planung und Ausgestaltung der Wohnumwelt zu neuen Qualitäten führen. Die Herausforderungen durch die Urbanisierung sind nicht neu. Ausgehend von der Kritik am vorherrschenden, normierten Massenwohnungsbau der Nachkriegsjahre des Zweiten Weltkriegs entwickelte sich in der Steiermark eine eigenständige Typologie im sozialen Wohnbau. Die Kombination aus politisch offenen Rahmenbedingungen, Nutzung des vorhandenen Ideenpotenzials der ausgebildeten Architekten der Technischen Universität Graz und Mut aller Akteure brachte eine innovative, vielbeachtete, steirische Wohnbauepoche hervor, die unter dem Titel Modell Steiermark bekannt wurde. 

Die Befriedigung der Wohnbedürfnisse am steirischen Wohnungsmarkt der Nachkriegszeit hatte sich auf zwei Grundformen reduziert: das Eigenheim im Grünen und der geförderte soziale Wohnbau. Beide Neubauformen fanden an der Peripherie der Städte statt. Im Jahr 1966 sahen 78% der Österreicher das Einfamilienhaus im Grünen als die ideale Wohnform an. Beispielhaft steht hier das Grazer Murfeld. Die individuelle Planung des zukünftigen Hauses ermöglichte den Eigentümern, persönliche Wohnträume umzusetzen. Der geförderte, soziale Wohnbau stellte die einzige Alternative zum Einfamilienhaus dar und war ein Massenwohnbau, der aus dem Druck und den Zwängen der Nachkriegsjahre entstand. Als Beispiel für den geförderten sozialen Wohnbau steht hier der Berliner Ring in Graz. Die niedrigeren Kosten verlangten einen gleichzeitigen Verzicht auf die Erfüllung individueller Wohnbedürfnisse. Im Rahmen der gesetzlichen Bestimmungen entschieden die Baugenossenschaften über „[...] was und wie gebaut wurde.“ Die vorrangige Aufgabe bestand in der Realisierung von preiswertem Wohnbau in kurzer Zeit. Die Baugenossenschaften planten Wohnobjekte für anonyme Bewohner, deren individuelle Wohnbedürfnisse keine Berücksichtigung fanden und die durch das Fehlen von individuellem Freiraum gekennzeichnet waren. Die Planungsgruppe Domenig/Huth übte bspw. starke Kritik: „Ideenlose Grundrisse in Mindestgröße gehalten, ohne jede städtebauliche Einsicht, [...] ohne Beziehung zur Umgebung, machen städtisches Leben unmöglich.“ 

Teil 2 des Artikels folgt am 16. Mai 2018

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