28/12/2009
28/12/2009

Buchumschlag

Pichler, Adelheid/Marinelli-König, Gertraud (Hg.): Kultur – Erbe – Stadt. Stadtentwicklung und UNESCO-Mandat in post- und spätsozialistischen Städten, Innsbruck: StudienVerlag 2008 (Gedächtnis – Erinnerung – Identität. Bd. 8). ISBN 978-3-7065-4385-9, Softcover, 341 S.; Preis: 39,80 Euro.

Rund zwanzig Jahre nach der „Wende“ ist über die radikalen Veränderungsprozesse in den ehemaligen kommunistischen Ländern abseits der großen politischen Linien im Westen noch immer relativ wenig bekannt. Der thematisch weit gespannte Bogen dieses Sammelbandes zur städtebaulichen Entwicklung in spät- und postsozialistischen Städten ist das Ergebnis einer Tagung an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) in Wien. Die im Herbst 2005 abgehaltene Konferenz verdankt sich den an der ÖAW angesiedelten Forschungsschwerpunkten zu „Orten des Gedächtnisses“ bzw. „Postsozialismusforschung“.
Neben den bekannten und auch geografisch naheliegenden Beispielen wie Berlin, Prag und Krakau sind auch den „klassischen“ sozialistischen Metropolen wie Moskau und Bukarest ausführliche Beiträge zur Stadtentwicklung gewidmet. Noch exotischer, aber mindestens ebenso interessant sind die Einblicke in die rezente Umgestaltung von Städten wie Havanna, Peking und Tiflis. Gemeinsam ist allen genannten Orten, dass ihr kulturelles Erbe nach der Wende von 1989/90 eine radikale Umdeutung erfahren hat. Das gilt auch und insbesondere für Länder, wo das kommunistische System bis heute offiziell weiterexistiert, wie in Kuba oder China.
Im einleitenden Beitrag des britischen Osteuropaforschers Gregory Andrusz wird das komplexe Phänomen des Wandels auf die prägnante Formel „From Wall to Mall“ gebracht, also der Weg von der trennenden (Berliner) Mauer hin zu den Einkaufsparadiesen westlicher Prägung, dem Paradesymbol kapitalistischen Lebensstils. Einher damit gingen eine Reihe von soziokulturell sehr spannenden Phänomenen: zum einen die Säuberung des Stadtbildes von unerwünschten sozialistischen Denkmälern und „Erinnerungsorten“, zweitens die „Disneyfizierung“ oder auch physische Vernichtung von ganzen historischen Stadtteilen und schließlich die Gentryfizierung in gezielt etablierten Nobelbezirken, die es den neuen Eliten erlaubt, einkommensschwächere Bevölkerungsgruppen zu verdrängen und unter ihresgleichen zu bleiben. Der öffentliche Raum wird wiederum zur Projektionsfläche der neuen herrschenden gesellschaftlichen Mächte, seien es nun die Kirche, Parteien oder internationale Konzerne, die sich in teils monumentalen Gebäuden zu repräsentieren verstehen.
Viele dieser jüngsten Entwicklungen stehen in krassem Widerspruch zur Tatsache, dass bedeutende Teile der Altstädte unter dem Statut des UNESCO-Weltkulturerbes denkmalgeschützt sind. Wenn auch schon in sozialistischer Zeit große Teile der historischen Substanz vernichtet wurden, so geschieht dies heute vielfach subtiler und unter dem Deckmantel der Konservierung, wie Alexej Kometsch am Beispiel von Moskau erläutert. Während die äußeren Hüllen als Attrappen erhalten bleiben, geschieht das Zerstörungswerk hinter den Fassaden oft genug mit staatlicher Billigung oder sogar Förderung, der mit dem kostspieligen Erhalt der Bauwerke nicht länger belastet sein möchte.
Die Neuausrichtung der Identität lag auch den Veränderungen in der neuen alten deutschen Bundeshauptstadt Berlin zugrunde: Palast der Republik und verschiedene DDR-Ministeriengebäude waren eine unliebsame Erinnerung an das Stasi-Regime und mussten der Rekonstruktion eines artifiziellen Berlins des 19. Jahrhunderts weichen, wie Michael Falser und Karin Wilhelm in unterschiedlichen Perspektiven ausführen. Diese Tendenz zur „Disneyfizierung“ ist aber keineswegs auf den Osten beschränkt, wie Frank Roost bei der synchronen Betrachtung der „historisierenden Inszenierung“ des Potsdamer Platzes mit dem New Yorker Times Square feststellen musste. Einen interessanten Kontrast dazu bietet das Schicksal des ehemaligen Luxushotels „Iviera“ in Tiflis, das kurzerhand in ein Heim für abchasische Flüchtlinge umgewandelt und so zugleich zu einem Symbol für hoffnungslose Sackgassen als Folge von Konflikten in der kaukasischen Region wurde.
Abseits des historisch-analytischen Blicks auf die postkommunistischen Städte regt der Sammelband aber nicht zuletzt dazu an, wieder einmal einen durchaus selbstkritischen Blick in den Spiegel zu werfen. Gerade am Beispiel Graz, das in den vergangenen Jahren lebhafte Diskussionen um den Umgang mit seinem UNESCO-Weltkulturerbe erlebt hat (z.B. überdimensionierte Einkaufstempel in der Altstadtlandschaft oder ein auf die Stadtkrone aufgepfropftes Luxushotel) zeigt sich die allgegenwärtige Aktualität dieser Thematik. Die Lektüre des einen oder anderen Beitrags aus diesem Buch sei daher heimischen Städteplanern wie auch den verantwortlichen PolitikerInnen auf das Wärmste empfohlen.

Verfasser/in:
Josef Schiffer, Buchrezension
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