22/03/2018

Die Rückkehr der schöpferischen Verschimmelung

Lukas Vejnik zum Buch Curated Decay: Heritage beyond Saving von Caitlin DeSilvey

22/03/2018

Karl Popper wollte Wissenschafter dazu ermutigen, waghalsige und kühne Theorien mit einem hohen Grad an Unbestimmtheit zu formulieren. Für Popper war Albert Einstein das Idealbild dieses mutigen Wissenschafters. Nun ist die Denkmalforschung nicht unbedingt ein Gebiet, dem man einen Hang zum Waghalsigen zuschreiben würde. Das Spektrum an Möglichkeiten, wie aktuell mit Erbe umgegangen wird, hat sich irgendwo zwischen monumental rekonstruktiv und Hands-on Reparaturmentalität eingependelt. Wie wäre es dagegen mit einem bewussten Hands-off und Let-go, anstatt des ständigen Hold-on und den vereinzelten Comebacks?

Hold on. Let go
Die Geographin Caitlin DeSilvey stellt sich, in ihrem 2017 erschienenen Buch Curated Decay, diesen und anderen Fragen in Hinblick auf eine Denkmalpflege ohne Eingriffe, bei der, anstelle eines objektivierten Stillstands, der Prozess des Zerfalls tritt. Die Autorin spekuliert in dem episodisch und auf eigenen Erfahrungen basierenden Band über die Möglichkeit einer Denkmalpflege jenseits des unbedingten Schutzes (Heritage beyond Saving). Gleichzeitig wirkt die Schrift gegen einen Affekt, von dem Denkmalschützer, egal ob es um eine Stuckfassade oder eine rohe Betonwand geht, Gefahr laufen, angesteckt zu werden. Wer sich bei der Lektüre von Kapitel zwei zum Hafen von Mullion Cove ertappt oder peinlich berührt fühlt, kann sich getrost zur Risikogruppe zählen. DeSilvey erzählt die Geschichte vom verfallenden Objekt, das doch wegen seiner historischen Relevanz geschützt werden müsste, aus einem anderen Blickwinkel. Aus ihrer Perspektive entpuppt sich öffentliche Empörung aufgrund von Vernachlässigung, die manchmal aber eben nicht immer legitim ist, schon mal als Projektionsfläche privater Interessen. Dagegen sollten wir uns, so die Autorin, die Frage stellen, was es praktischerweise bedeuten kann, einen gewissen Grad an Entropie im Umgang mit Denkmälern zuzulassen. Das Ergebnis wäre eine Art positiv aufgefasste Passivität wie sie bereits in Georg Simmels Texten auftaucht und die Bereitschaft mit Schwankungen zu leben, die manchmal den vordergründigen Interessen der Gesellschaft diametral gegenüberstehen können. An mehreren Stellen scheint dabei fernöstliche Philosophie durch die Ritzen des wackligen Bodens von Curated Decay einzudringen.

Vom zerbröselnden Brutalismus zum gekrümmten Schuppen
Die Reise beginnt inmitten der Überreste einer verlassenen Farm in Montana. Weitere Stationen sind das ehemalige Testareal für Kernwaffen Orford Ness und die historische Hafenmauer in Mullion Cove, die kurz davor ist, vom Meer verschluckt zu werden. Mal ist es die Veränderung der sozialen Verhältnisse, ein andermal die Verlagerung militärischer Aktivität oder die Einwirkung der Naturkräfte, die für einen Verfall der Orte sorgen und für die DeSilvey als Strategie einen kuratierten Zerfall unterschiedlicher Intensität vorschlägt.
Gut gemeinten Sanierungsversuchen wie in der brutalistischen Kirche Klimahew St. Peter's, die Fauna und Flora der jeweiligen Orte ignorieren oder beseitigen, wird kritisch begegnet.
DeSilveys zerfallende Monumente bestehen dagegen aus den Überresten menschlichen Eingreifens, in deren Spalten sich Pflanzen wieder ansiedeln dürfen. Der Natur wird Einlass gewährt. Zugang wird zyklisch über die verschiedenen Stufen des Verfalls geregelt. Wenn eine Decke einsturzgefährdet ist, wird der Gefahrenbereich temporär gesperrt. Ist dieser Bereich im Laufe der Zeit durch die stützende Kraft der Bäume wieder sicher, wird er wieder geöffnet. Bäume sind hier lebendige Zeitgeber, ihre Ringe ein Kalender, der uns zeigt, dass Zeit sich ansammelt, die Gegenwart Vergangenes umschließt und enthält. Daraus entsteht das Bild eines langsam kollabierenden, sich durch die Naturkräfte verwindenden Gebäudes. Die Betreuung dieser Denkmal-Landschaften würde eine neue Form der Transdisziplinarität auf den Plan rufen. Zugegeben: das könnte unser überreguliertes System durchaus vor Herausforderungen stellen.

Fundamente eines zerfallenden Denkmals
All das seien eigentlich keine neuen Erkenntnisse. Fundamte für ihre Zerfallstheorie findet DeSilvey in den Schriften von Alois Riegl. Der Wiener Kunsthistoriker hat in seinem Text Der moderne Denkmalkultus und seinem darin entwickelten Begriff des Alterswertes, chemische Prozesse, die den Zerfall vorantreiben, als Teil eines sich entwickelnden Denkmals anerkannt. Auch die Ruine speist ihre Faszination nicht aus dem eingefrorenen Zustand, sondern aus den kontinuierlichen Veränderungen, die durch die Natur im Bauwerk ausgelöst werden. Um die Fantasie der Betrachter anzuregen, braucht es Ruinen, so die polemische Forderung. Man könnte es auch als Mut zum Fragment bezeichnen. DeSilveys Curated Decay ist nicht willkürlich. Vielmehr beschreibt sie den Akt des Loslassens als etwas sehr Bewusstes, als eine Form der palliativen Denkmalpflege. Wieso Gebäude also nicht beim Sterben begleiten? Dagegen sperre sich das Festhalten am Bestehenden, das sich vor allem in den westlichen Kulturen etabliert habe.

Hundertwasser lässt grüßen
In diesem Sinne könnten wir auch wieder eine Portion Hundertwasser vertragen. Den schreibenden Hundertwasser, nicht den Bauenden. Der hat in seinem Verschimmelungsmanifest ähnliches gefordet wie Alois Riegl am Beginn des vergangenen Jahrhunderts und Caitlin DeSilvey heute.
Wenn sich an einer Rasierklinge der Rost festsetzt, wenn eine Wand zu schimmeln beginnt, wenn in einer Zimmerecke das Moos wächst und die geometrischen Winkel abrundet, so soll man sich doch freuen, dass mit den Mikroben und Schwämmen das Leben in das Haus einzieht und wir so mehr bewusst als jemals zuvor Zeugen von architektonischen Veränderungen werden, von denen wir viel zu lernen haben, so Hundertwasser.
Auch wenn die schöpferische Verschimmelung nicht die alleinige Strategie im Denkmalschutz wird, kann sie durchaus als Anstoss für ein erweitertes Repertoir an Werkzeugen im Umgang mit Einzelfällen wirken. Ein willkommenes Kontrastmittel in der aktuellen Debatte um den Denkmalschutz ist Curated Decay allemal.

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