17/06/2020

Die Stadt entsteht im Kopf – 03

Von sozialen Utopien und selbstorganisierten Bau- und Wohngenossenschaften

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Ein Beitrag der AutorInnen:

beide tätig am RCE Graz-Styria – Regionales Zentrum für Nachhaltigkeit an der KF-Universität Graz

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17/06/2020
©: Wikimedia Commons

Das aus dem Griechischen abgeleitete Wort Utopie heißt übersetzt Nicht-Ort. Bevor ein Ort geworden ist, was er heute ist, stand immer wieder ein Nicht-Ort am Beginn. Nicht-Orte entstehen zuerst im Kopf. Sie spielen eine wichtige Rolle in der Entwicklung von Stadt. Mit Nicht-Orten werden Leidenschaften geweckt, Zukunftsbilder projiziert und bestimmte politische Programme anschaulich gemacht. Deshalb sind Nicht-Orte oft umkämpft. In Teil 1 und 2 unserer Serie Die Stadt entsteht im Kopf haben wir einige Beispiele dafür gebracht, wie urbane Zukünfte zunächst als Vorstellungen entwickelt worden sind. Erst in einem zweiten Schritt sind einzelne ihrer Elemente dann materiell auch umgesetzt worden. Allerdings entwickeln sich der urbane Raum und mit ihm die Vielheit der konkreten Orte einer Stadt niemals linear und strikt nach Programm. Die vorgestellte Welt der Nicht-Orte bietet vielmehr Inspiration, dient als Einsatz im Spiel der Ideen. Sobald die städtische Utopie auf die Wirklichkeit der konkreten Orte trifft, wird etwas Anderes, Neues daraus. Deshalb werden urbane Utopien in aller Regel nur teilweise umgesetzt. Und das ist auch gut so. Denn so bleibt die Eigenart der konkreten Städte und ihrer Orte erhalten. Utopien werden dagegen häufig als allgemeingültige Leitbilder präsentiert, nach denen sich die Wirklichkeit zu richten hat. Wir haben dagegen in Teil 2 unserer Serie dafür plädiert, die Städte in ihrer individuellen Eigenart zu entwickeln und einen bewussten Eklektizismus zu pflegen.

In diesem Zugang zur Stadtentwicklung sind Utopien willkommen. Aber sie werden nicht als umfassende Blaupausen für eine Stadt der Zukunft verstanden, sondern als ein Raum von Möglichkeiten. Eine besondere Art von Utopien versteht sich selbst in dieser Weise. Im Folgenden wollen wir uns einer davon widmen, die der Schweizer Autor Hans Widmer (alias P.M.) entwickelt hat. Sein Buch bolo‘bolo, das 1983 erschienen ist, hat dafür den Grundstein gelegt. Dort beschreibt Widmer eine soziale Utopie. Seine Kritik richtet er gegen „das Monster“, das er als planetare Arbeitsmaschine (PAM) bezeichnet. bolo’bolo entwickelt er als Vision und Gegenvorschlag zu diesem System. Diese Vision soll die PAM von Innen auflösen. Sie lässt sich nicht in den Gegensatz zwischen reformistischen und revolutionären Ansätzen einordnen. Im Kern besteht Widmers Utopie aus einer Gruppe von 500 Menschen, die sich aufgrund ihrer gemeinsamen Interessen und Vorstellungen zu einer Nachbarschaft – einem bolo zusammenschließen. Für eine nach diesem Prinzip sukzessiv aufgebaute Weltgemeinschaft mit zahlreichen bolos unterschiedlicher Ausrichtungen entwickelt Widmer Leitlinien für ein positives Miteinander und die selbstbestimmte Organisation. Ein universelles Gastrecht ebenso wie die Mitarbeit im bolo für die Versorgung mit Lebensmitteln sind dabei essenziell. Selbstironisch und optimistisch sprach Widmer von einer Umsetzung seiner Utopie bis Ende 1987. In den 37 Jahren seit der Publikation von bolo'bolo ließ Widmer diese Idee nicht mehr los. Er entwickelte sie über Zwischenstationen immer konkreter mit Blick auf eine Umsetzung.

So hat Widmer die soziale Utopie von bolo‘bolo unter anderem in seinem 2000 erschienenen Buch Subcoma genauer ausformuliert. Oft salopp, meistens zielsicher, nimmt Widmer alles ins Visier, was einer ökologisch und sozial nachhaltigen Gesellschaft seiner Meinung nach im Wege steht. Die Problemdiagnose könnte man fast unverändert im Jahr 2020 übernehmen: „Immer wieder befällt mich ungläubiges Staunen, wenn ich mich umschaue und feststelle, dass wir immer noch Kapitalismus haben.“ Er fragt: „Warum müssen die Vermögen, das Bruttosozialprodukt, der Energieverbrauch jedes Jahr wachsen? Wohin? Um was für ein Projekt geht es hier?“ und stellt fest: „Keiner weiß es, alle machen mit.“ Doch Widmer lassen die folgenden Fragen keine Ruhe, die er im Buch zu beantworten sucht: „Wie kommen wir da heraus? Wie können wir den Welthaushalt in Ordnung bringen? Möglichst noch bevor das Klima kippt, die Wirtschaft crasht und unsere Nerven reißen? ‚Subcoma‘ versucht fundierte Antworten zu geben. Es gehört in jede Küche“.

Subcoma ist das Kürzel für eine „Organisation X“, die laut Widmer aufgebaut werden sollte. Sie setzt sich buchstäblich aus Subsistenz, Community und A-Patriarchat zusammen. Die Subcoma-Perspektive kombiniert lokale Selbstversorgung mit globaler Vernetzung. Sie bezeichnet eine Alternative auf der Grundlage bestehender Infrastrukturen. Es geht nicht um eine Tabula Rasa wie in einer klassischen Utopie, sondern um eine kluge Umdeutung und Ergänzung oder die Reduktion dessen, was es bereits gibt. Der Nicht-Ort tritt zum Ort hinzu, ersetzt ihn nicht.

Utopien wie die der Smart City, der funktionalen Stadt, der Gartenstadt oder der EcoCity zielen vor allem darauf, die gebaute Umwelt und die Technologien neu zu strukturieren, um das soziale Leben zu verändern. Sie sollen durch Neubau oder durch ganz neue Technologien entstehen. Subcoma geht den umgekehrten Weg und konzentriert sich zunächst auf die Frage der sozialen Organisationsformen, ohne aber die Rolle baulicher und technologischer Strukturen zu vernachlässigen.

Der Ansatz von Subcoma hat kaum etwas mit Fantasie zu tun. Sagt jedenfalls Widmer. Tatsächlich ist Subcoma im Kern funktionalistisch. „Mein Vorschlag“, so schreibt Widmer, „basiert auf sechs Stufen sozialer Organisation. Diese Zahl und Einteilung ergibt sich nicht aus theoretischen oder gar numerologischen Erwägungen, sondern rein pragmatisch aus materiellen Gegebenheiten. Es geht hier darum, so fantasielos wie möglich zu sein. Was wir brauchen, ist ein Grundgerüst, das vielseitig angepasst und variiert werden kann. Man könnte auch sagen, dass dieses einem Katalog von Fragen entspricht, die beantwortet werden müssen, wenn wirklich von einer Alternative zum Kapital gesprochen werden soll.“ Ohne ins Detail zu gehen, sieht die Subcoma-Struktur aus wie folgt: Durchgehend nach dem Subsidiaritätsprinzip aufgebaut, wonach alle Funktionen auf der kleinstmöglichen Maßstabs-Ebene anzusiedeln sind, organisieren sich Menschen ausgehend von der unmittelbaren Nachbarschaft bis zur globalen Ebene. Während sich die Nachbarschaften, die Widmer nun als LMOs bezeichnet (Life Maintenance Organizations, zu dt.: Lebenserhaltungsorganisation, vgl. bolo) mit den wichtigsten Gütern und Diensten weitgehend selbstversorgen, widmet sich die globale Ebene nur den übergreifenden Problemstellungen. Allein in den Bereichen, in denen eine Organisationseinheit nicht mehr autonom agieren kann, tritt sie mit anderen Organisationen und auf höherer Maßstabs-Ebene in Austausch. Die höheren Organisationsebenen bleiben auf diese Weise – so die Idee – immer auf den politischen Willen und die sozialen Bedürfnisse der unteren Einheiten rückgebunden; anders als heute, wo der Nationalstaat oder eine internationale Institution allen untergeordneten Einheiten Vorgaben machen können.

Die Architektur folgt in der Vorstellung von Subcoma keinem Masterplan, soll nicht die sozialen Verhältnisse dominieren, sondern bleibt der lokalen demokratischen Entscheidung überlassen: „Jede LMO bestimmt ihre inneren Strukturen, ihre Lebensweise, ihre architektonische Gestaltung, selbst“. Klar ist für Widmer, dass bestimmte bauliche Strukturen es erleichtern, die Funktionen der LMOs zu erfüllen. So hebt er die Vorzüge der Blockrandbebauung hervor. In ländlichen Regionen sollen aber auch die üblichen Gemeindestrukturen gut für ein LMO geeignet sein. Eine konsequent subsidiäre Gliederung des Zusammenlebens hat, so illustriert Widmer anschaulich, viele soziale und ökologische Vorteile. Denn sie geht von den menschlichen Bedürfnissen aus und befriedigt sie ökologisch effizient.

Widmer engagierte sich viele Jahre in der HausbesetzerInnenszene in Zürich und war 1995 Mitbegründer der Bau- und Wohngenossenschaft Kraftwerk1. Inzwischen wird seine ursprüngliche Utopie real. In seiner im Oktober 2019 erschienen Publikation Nach Hause kommen beschreibt er den Weg zur Umsetzung. Er entwickelt das Bild einer städtischen Nachbarschaft von 500 Menschen, welche mit einer sogenannten Landbasis für die Lebensmittelversorgung verbunden ist. Aufgaben und Verantwortung werden unter den Mitgliedern einer Nachbarschaft aufgeteilt. Vorhandene Ressourcen in Form von Gegenständen, Wissen und Dienstleistungen werden geteilt. Räumlich beinhaltet die Nachbarschaft die Nahversorgung angefangen vom gemeinsamen Freibad über die Bäckerei, Werkstätten bis hin zur Kinderversorgung, einer Bibliothek und einem Tauschlager. In einer Nachbarschafts-App kann der persönliche Verbrauch eingesehen und mit anderen Haushalten abgeglichen werden. Als Rechts- und Wirtschaftsform kommt die Genossenschaft zur Anwendung.

Widmer plädiert leidenschaftlich und mit Fakten untermauert für den Umbau bestehender Siedlungen um die planetaren Grenzen nicht weiter zu überschreiten – hin zu einem enkeltauglichen Konsummuster. Zur Veranschaulichung seiner Idee benötigt es Leuchtturmprojekte, meint Widmer. Die Bau- und Wohngenossenschaft Nena1, als Leuchtturmgenossenschaft gegründet, befindet sich in der Phase der Arealschau. Insgesamt werden derzeit sechs verschiedene Grundstücke sondiert. Im Bereich der Wohnbauarchitektur scheint in der Schweiz jedenfalls Vieles leichter umsetzbar als in Österreich. Wann genau der Spatenstich von Nena1 erfolgen wird, ist derzeit aber unklar. Doch die Idee ist auf dem besten Weg dazu. Wie wäre es, wenn gleichgesinnte österreichische Initiativen Vorreiterinnen werden würden um aus einem Nicht-Ort einen solchen Ort werden zu lassen?

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