04/11/2015

Sichtbeton als technologischer und entwerferischer Prozess

Die Erscheinung von Betons wird durch vier Faktoren bestimmt: Mischung, Schalhäute, Ankerstellen und Arbeitsfugen. In den Kombinationsmöglichkeiten verbirgt sich die Vielfältigkeit der Ergebnisse. Eine detaillierte Betrachtung in Bezug auf Dämmbeton.

Dieser Artikel erscheint im Rahmen des GAT-Schwerpunkts Monolithisch Bauen.

04/11/2015

Nationalparkzentrum von Valerio Olgiati in Zernez, Schweiz (2008)

©: Subaru 2009

Nationalparkzentrum von Valerio Olgiati in Zernez, Schweiz (2008)

©: Roland Zumbühl

Linienstraße 40: Wohn- und Geschäftshaus in Berlin Mitte von Bundschuh Architekten (2010)

©: Liapor

Goethe-Gymnasium in Regensburg von Dömges Architekten (2009)

©: Liapor

Schmuckornamente in Form von Ginkoblättern zieren die Wände des Goethe-Gymnasium in Regensburg

©: Liapor

Ästhetisch relevant für die Erscheinung des Betons sind vier Faktoren: die Mischung, die Schalhäute, die Art und Weise, wie die Schalungen zusammengehalten werden – die Ankerstellen – und die aus logistischen Gründen unvermeidbaren Spuren der Betonierabschnitte, die Arbeitsfugen. Sichtbeton ist somit kein Baumaterial im eigentlichen Sinne, sondern ein Prozess, der von zahlreichen Faktoren technologischer und entwerferischer Art beeinflusst wird. In den Kombinationsmöglichkeiten verbirgt sich also die Vielfältigkeit der Ergebnisse. In weiterer Folge werden diese vier Faktoren in Bezug auf Dämmbeton in Detail erläutert.

Die Alchemie der Mischung

Die Betonmischung bestimmt sowohl Plastizität und Geschmeidigkeit der Betonmasse als auch die Farbe. Dabei ist nicht nur die Zementfarbe bestimmend, sondern auch die Art, Farbe und Granularität der feinen Betonzuschläge. Im Fall des Nationalparkzentrums von Valerio Olgiati (2008) in Zernez (CH) wurde deswegen über einem Jahr an der Rezeptur gearbeitet. Erst durch die Kombination aus einem weißen Zement aus Tschechien und hellem Feinsand aus dem 400km entfernten La Sarraz als Zuschlagstoff gelang es, die gewünschte Tonalität Eierschalenweiß zu erreichen. Bei der 2014 eröffneten Neuapostolischen Kirche in Wien von Veit-Aschenbrenner Architekten wurde stattdessen mit Glasschaumschotterzuschlag gearbeitet. Die hell gefärbte Betonfläche „reflektiert das Licht diffus, verstärkt die konzentrierte Atmosphäre und erzeugt einen gestimmten und kontemplativen Raum“ (1).

Auch dunkle Farben sind durch Beimengung von lichtechten, pigmenthaltigen Flüssigfarben möglich, wie im Wohn- und Geschäftshaus in Berlin Mitte (2010) von Bundschuh Architekten. Die Betonoberflächen wurden anschließend hydrophobiert, um eine gleichmäßig dunkle Sichtbeton-Oberfläche zu bekommen, die den skulpturalen Charakter des Gebäudes hervorhebt. Die nachträgliche Hydrophobierung kann auch dazu verwendet werden, durch Pigmentierung die Farbtonalität des Betons zu verändern. In der Zentrumsüberbauung in Sins von Buchner Bründler (2009) verleiht die pigmentierte Hydrophobierung der Betonoberfläche dem Betonmonolith eine rötliche Farbe, die das Gebäude mit dem Dachziegel der Nachbarbauten verbindet. Bei diesen Maßnahmen ist allerdings zu beachten, dass die Dampfdiffusionsoffenheit der Bauteile nicht durch nachträgliche Lasierungen oder Tiefenhydrophobierungen beeinträchtigt werden soll.

In Schale geworfen

Die Textur der Oberfläche wird hauptsächlich durch die Wahl der Schalung beeinflusst. Für Dämmbeton steht so wie beim herkömmlichen Beton nahezu jeder Schalungstyp und somit jede Betonoberfläche zur Auswahl. Durch die zunehmende Bedeutung der Oberfläche kommt es immer öfter vor, dass Sichtbetonoberflächen Bildern gleichen, die in einer von visuellen Reizen überfluteten Welt um unsere Aufmerksamkeit kämpfen, während die Konstruktionsspuren untergeordnet werden. Im Goethe-Gymnasium in Regensburg (2009) von Dömges Architekten zieren Schmuckornamente in Form von Ginkoblättern (als Hommage Goethes berühmtes Gedicht über den Ginkobaum) die Wände. Diese wurden mittels Silikonformen auf die Schalung so aufgebracht, dass sie das Raster des mit OSB-Platten geschalten Hintergrunds durchbrechen. Technische Entwicklungen im Bereich der Schalungstechnik werden das Phänomen der Betonornamentik in den kommenden Jahren weiter forcieren. Dabei ist nicht wirklich klar, ob diese Experimente erst durch die technischen Entwicklungen ermöglicht wurden oder ob das wiedererwachte Bedürfnis nach Ornamenten stattdessen jene Kraft geworden ist, die die Beton- und Schalungstechnik vorantreibt. Ebenso ist es durch die heutzutage verfügbaren Geräte möglich, auf unterschiedliche Weisen (sandstrahlen, stocken, schleifen, waschen…) die äußere Betonschicht abzutragen, um damit das Erscheinungsbild des Betons besser zu beeinflussen. Fehler und Unregelmäßigkeiten können so zwar nicht gänzlich ausgeschaltet werden, sie treten aber in den Hintergrund. Damit wird aber die Endgültigkeit des ursprünglichen Abgusses relativiert. 

Obwohl die formalen Experimente, denen das Material Beton derzeit unterzogen wird, gewiss mitunter sehr spannende Ergebnisse liefern, ist die „Oberflächigkeit“ dieser Annährung umstritten. Es sind deswegen in jüngster Zeit immer mehr Architekten bemüht, Struktur, Raum und Material in einer Einheit zu verbinden, das heißt: grammatikalisch statt semantisch zu arbeiten. In diesen Fällen wird die semantische, „dekorative“ Ebene der Oberfläche so weit zurückgenommen, dass die räumlich-konstruktive Struktur in den Vordergrund tritt und für den Ausdruck sorgt. Die Oberfläche an sich wird somit unwichtig, während das geometrische System, dem die Schalung zugrunde liegt, in den Vordergrund tritt. In diesem Fall werden Maßstab, Gliederung und rhythmische Ordnung des Bauwerks durch Anzahl, Proportion und Position der Fugen und Ankerstellen bestimmt. Ein klares Beispiel ist das Universitätsgebäude in Eichstätt (1980) von Karl Josef Schattner, wo die Fassadenkomposition – ähnlich wie in den Salk Institutes von Louis Kahn (1963) – dem Fugenbild und der Positionierung der Ankerstellen zugrunde liegt.  Auch beim vorher erwähnten Nationalparkzentrum in Zernez von Valerio Olgiati werden die Proportionen und Maßstäblichkeit des Bauwerkes und somit sogar seine Eingliederung in das barocke Ensemble durch das Schalungsbild bestimmt. 

Gleich und doch anders

Dämmbeton, wenn auch immer noch nicht besonders verbreitet, hat im Laufe der letzten zehn Jahre den hochexperimentellen Charakter verloren, den er Anfang des 21. Jahrhunderts hatte. Zahlreiche Erfahrungswerte haben sowohl zu verbesserten bauphysikalischen und mechanischen Eigenschaften als auch zu einer größeren formalen Vielfalt geführt. Die typische, porenreiche Oberfläche mit dem lebendigen Lunkernbild bleibt nach wie vor charakteristisch, wenn auch mittlerweile sehr glatte Oberflächen ohne nennenswerte Einschlüsse und Unebenheiten möglich sind. Der größte Unterschied bei der Wirkung von Dämmbetonoberflächen im Vergleich zu normalen Betonsorten ist derzeit auf die besondere Stärke der Bauteile zurückzuführen: aufgrund der tiefen Fensterlaibungen (3) wirkt sich die stetige optische Veränderung der Betonoberfläche je nach Tageslichtintensität und Einfallswinkel (mal weicher, mal scharfkantiger…) umso stärker aus – und hat zum Teil die Faszination, die monolithische Bauwerke auf uns ausüben, zu verantworten. Man darf also auf die kommenden zehn Jahren gespannt sein.


(1) Veit-Aschenbrenner Architekten, http://www.vaarchitekten.com
(2) Filipaj, Architektonisches Potenzial von Dämmbeton, vdf, S.80
(3) Aufgrund der Bauteiltiefe ist übrigens bei der Planung die Frage zu klären, ob die Oberfläche der Laibung jener der Fassade entsprechen soll.

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