27/03/2011
27/03/2011

United Artists Theater, erbaut 1928, Architekt Charles Howard Crane. Das im spanisch-gotischen Stil gestaltete Kino ist seit 1974 dem Verfall preisgegeben. Dieses Bild und alle folgenden stammen aus "The Ruins of Detroit", von Yves Marchand und Romain Meffre

Atrium des Farwell Buildings. Baujahr 1915, Architekt Harrie W. Bonnah. Das ehemalige Bürogebäude ist seit 1984 ungenutzt.

Ein Büro in der Highland Police Station. 1917 errichtet, wurde die Polizeistation 2002 geschlossen, als der Stadtteil Highland Park Bankrott ging.

Woodward Avenue Presbyterian Church, erbaut 1911 im neugotischen Stil, Architekt Sidney Badgley. Seit über zwanzig Jahren nicht mehr in Verwendung, gibt es derzeit Überlegungen den Bau für ein Obdachlosenheim zu reaktivieren.

William Livingstone House, Brush Park. 1893 nach einem Entwurf von Albert Kahn errichtet, wurde es mittlerweile endgültig abgerissen.

Fisher Body wurde 1908 gegründet und war zeitweise der größte Hersteller von Autokarosserien. Mitte der 20er Jahre beschäftigte die Firma in vierundvierzig Werken 40.000 Mitarbeiter, die jährlich rund eine halbe Million Karosserien herstellten. 1926 gingen die Mehrheitsanteile an General Motors. Sämtliche Fotos Copyright Yves Marchand und Romain Meffre, Steidl-Verlag.

Zum Bildband "The Ruins of Detroit", von Yves Marchand und Romain Meffre; erschienen im Steidl-Verlag 2010.

Home folks think I'm big in Detroit City.
From the letters that I write, they think I'm fine.
But by day, I make the cars,
and by night I make the bars,
If only they could read between the lines!
(Tom Jones, Detroit City)

Hätte sich Ransom Eli Olds nicht von den Transportbändern in den Schlachthöfen Chikagos inspirieren lassen, wer weiß, wie die Geschichte des Automobils verlaufen wäre. Als erster der frühen Autohersteller in Amerika stattete er seine Fabrik in Detroit mit Holzgestellen aus, auf denen die Bestandteile für den Zusammenbau seiner Fahrzeuge nach und nach zu den jeweiligen Fertigungsstellen gezogen wurden. Die so entstandenen Oldsmobiles waren die Zündung zu Beginn des 20. Jahrhunderts für kostengünstige und effiziente Massenproduktion im Autobau.
Henry Ford, der ziemlich zur gleichen Zeit - ebenfalls in Detroit - seine Motor Company gegründet hatte, perfektionierte die Idee seines Konkurrenten. Der Siegeszug des legendären Ford Ts zum ersten „Volkswagen“ der Welt wäre ohne Fließbandtechnik wohl kaum möglich gewesen. Der Erfolg veranlasste weitere Autobauer wie General Motors oder Chrysler ihre Werke in Detroit zu errichten. Die beschauliche Kleinstadt am Eriesee mit knapp 200000 Einwohnern um 1890 wandelte sich zur unaufhörlich wachsenden, legendären Motor City. Die weiten Flächen selbst im Stadtkern boten den Vorteil, große Fabrikanlagen hinzustellen. Albert Kahn, einer der bedeutendsten Architekten von Industrieanlagen der damaligen Zeit, ging von den bisher üblichen Stahl- und Holzkonstruktionen dafür ab, setzte völlig neu auf Beton als maßgebliches Baumaterial. Wohnsiedlungen für die Arbeiter schossen neben den Fabrikanlagen aus dem Boden, Bars und Unterhaltungseinrichtungen folgten.
Whitney Warren, Charles Wetmore, Louis Kamper, Eliel Saarinen und andere drückten in der Planung von Prachtbauten wie der Michigan Central Station, dem Farwell Building oder dem siebenundsiebzig Stock hohen Book Tower den Stempel der Chicagoer Schule der Architektur auf die Stadt.
Sechzig Jahre nachdem das erste Auto vom Fließband rollte, Mitte der 1950er-Jahre, am Höhepunkt der amerikanischen Fahrzeugproduktion, kratzte Detroits Einwohnerzahl an der Zweimillionenmarke. Doch in seiner Wirtschaft nur auf Pferdestärken zu setzen, wurde Detroit zum Verhängnis. Der massive Zuzug von afroamerikanischen Arbeitern in die ursprünglich praktisch nur aus weißen Einwohnern bestehende Stadt löste mehrere Rassenunruhen aus. In Folge zog mehr und mehr weiße Bevölkerung an den Stadtrand, während das Zentrum zum Ghetto für die schwarze mutierte.
Stadtplanungsfehler, wie die systematische Ausdünnung des öffentlichen Nahverkehrs, das Einstellen aller Straßenbahnen, da ja in einer Motor City ohnehin jeder sein eigenes Fahrzeug hatte, führte zu weiterem Einwohnerschwund.
Die Ölkrise von 1973, die die Nachfrage nach den treibstoffhungrigen amerikanischen Automodellen erstmals dramatisch absacken ließ, bedeutete endgültig den Untergang Detroits. Die großen Drei - Ford, Chrysler und General Motors - begannen Werke zu schließen und die Arbeit in Billiglohnländer auszulagern. Fast eine Million Menschen verließ in den letzten vierzig Jahren wieder die Stadt. Über 100 000 Bauten wurden abgerissen, kaum etwas Neues errichtet. Unzählige Ruinen warten auf ihre Demontage. Detroits Zentrum ähnelt heute einer Geisterstadt.

Fünf Jahre lang haben Yves Marchand und Romain Meffre eine bedrückende optische Bestandsaufnahme des verbliebenen Zerfalls gemacht. Sie zeigen in immer wieder beinahe unwirklich erscheinenden Fotos eine Apokalypse aus Schutt, Schrott und Überbleibseln menschlichen Arbeitslebens: Verwaiste Maschinen rosten in den GM Hallen vor sich hin, Schulen oder Kirchen wurden, voll eingerichtet, Plünderern und Vandalen überlassen. Im riesigen Lager des Public Schoolbook Depository haben ein Brand und danach eingedrungenes Regenwasser einen bizarren Teppich aus Papier aufquellen lassen, in der geschlossenen Mark Twain Public Library verstauben tausende Bücher. Im Presswerk der Motown Record Company, der einzigen Industrie, die zumindest eine Zeit lang Detroit neben Autos weltbekannt machte, findet sich noch zwischen Trümmern der Schallplatten eines der Topstars von damals, Marvin Gaye. In einer aufgelassenen Polizeistation liegen Fahndungsfotos und gesammelte Beweismittel neben modernden Uniformen verstreut. Im ehemaligen prunkvollen Michigan Theater parken heute Autos unter üppigen Stuckdecken.

Fünf Jahre lang haben sich die beiden französischen Fotografen akribisch Detroits Schwanensang gewidmet. Dabei herausgekommen ist nicht nur ein in Wort und Bild herausragendes Buch über das Ende eines amerikanischen Traums, über das Ende von Architektur, sondern auch eine aktuelle Metapher auf den derzeitigen Zustand der USA.

Oh, mercy mercy me
Oh, things ain't what they used to be
(aus "Mercy Mercy Me", Marvin Gaye)

The Ruins of Detroit
Yves Marchand und Romain Meffre
Mit Einführungen von Robert Polidori und Thomas Sugrue
Steidl-Verlag, Göttingen 2010
Englisch, gebunden
227 Seiten, 186 Farbfotos
88 Euro

Verfasser/in:
Emil Gruber, Buchempfehlung
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