16/09/2020

Eine Frage des Standpunktes

Wenzel Mraček zu PERSPECTIVA PRACTICA von Anna Artaker an der Untersicht des neuen Lesesaals der Universitätsbibliothek Graz – ein 500 Quadratmeter großes Sgraffito, dessen Fertigstellung am 14. September 2020 gefeiert wurde.

Architektur
Atelier Thomas Pucher

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16/09/2020

PERSPECTIVA PRACTICA von Anna Artaker an der Untersicht des neuen Lesesaals der UB Graz

©: Wenzel Mraček
©: Wenzel Mraček

Quellenverweis am Zugang zur UB

©: Wenzel Mraček

Der Kupferstich in der französischen Ausgabe von 1642, HathiTrust Digital Library (Screenshot Mraček) siehe Link >
babel.hathitrust.org

©: Wenzel Mraček

Oben: Motiv für das Sgraffito aus der Augsburger Ausgabe von 1710, Bayerische Staatsbibliothek digital (Screenshot Mraček)

©: Wenzel Mraček

Seit 2005 betreibt die BundesImmobilienGesellschaft die Initiative BIG ART, mit der Kunst & Bau-Projekte über geladene Wettbewerbe vergeben werden. In der Steiermark bestehen inzwischen etliche künstlerische Interventionen an BIG-Gebäuden wie der HBLA für Forstwirtschaft in Bruck a.d. Mur (2009, 2011), der Neuen Chemie der TU Graz (2007, 2010) und dem MED-Campus Graz (2013, 2017). Die jüngste Arbeit stammt von der in Wien lebenden Künstlerin Anna Artaker und wurde an der Untersicht der Auskragung am Eingangsbereich der neu gestalteten Universitätsbibliothek Graz realisiert. Mit Baubeginn zur Sanierung und Erweiterung der UB wurde ein Wettbewerb ausgelobt, die Jury entschied sich im Herbst 2016 für die Umsetzung von Artakers Vorschlag unter dem Titel PERSPECTIVA PRACTICA.

1976 in Wien geboren, studierte Anna Artaker Philosophie und Politikwissenschaften in Wien und Paris, zudem Konzeptkunst an der Akademie der bildenden Künste in Wien. Als Mitglied der Akademie der Wissenschaften ist sie mit Bildproduktion im Kontext von Geschichtsschreibung befasst. In ihre künstlerisch wissenschaftliche Forschung fließen demnach immer wieder historische Foto- und Drucktechniken ein.
Für das 500 Quadratmeter große Sgraffito an der UB-Graz nahm Artaker einen Kupferstich des erstmals 1642 erschienen Lehrbuchs zum perspektivischen Zeichnen des Franzosen Jean Du Breuil zum Motiv beziehungsweise die adäquate Abbildung der Augsburger Übersetzung von 1710. Mit seiner Perspectiva Practica, Oder Vollständige Anleitung Zu der Perspectiv-Reiß-Kunst Nutzlich und nothwendig Allen Mahlern, Kupfferstechern, Baumeistern, Goldschmieden, Bildhauern, Stickern, Tapezierern und andern so sich der Zeichen-Kunst bedienen. Sehr deutlich und ordentlich beschrieben, und durchaus mit netten Kupffer-Figuren versehen (Augsburg 1710) nahm sich der Architekt und Mathematiker Du Breuil (1602 – 1670) aller nur erdenklichen Probleme perspektivischer Darstellung an, versehen jeweils mit praktischen Übungen für Adepten.

In Referenz auch an den Kupferstich – per „Grabstichel“ werden Späne einer Kupferplatte abgehoben – entschied sich die Künstlerin für die vergleichbare Sgraffito-Technik.
Über eine dunkel eingefärbte Putzschicht auf der Auskragung des Neubauteils wurde eine helle Kalkschicht in „Tagwerken“ (Stück für Stück) aufgetragen, worauf das Motiv in den noch feuchten Untergrund eingekratzt wurde. Teile des dunklen Putzes sind nun als Lineatur des Motivs sichtbar. Die Unschärfen des Kupferstichs wurden durch verschiedene Körnungen im Putz imitiert und erscheinen nun als leichtes Relief.
PERSPECTIVA PRACTICA hat damit auch den Charakter eines Trompe-l’œil, indem die Illusion von Dreidimensionalität oder einer Scheinarchitektur erzeugt wird. Es wird der Eindruck vermittelt, die plane Fläche der Untersicht sei ein sich nach oben öffnender Raum. Zudem ist das Bild einer Anleitung respektive „Ubung“, wie es bei Du Breuil heißt, der perspektivischen Darstellung „Von unterschiedlichen Ständen und Höhen der Fackel-Schatten“ auf der Untersicht der Auskragung nun selbst wieder unter perspektivischen Bedingungen, je nach Standort des Betrachters, wahrzunehmen: Die im Bild perspektivisch verzerrte Konstellation erscheint abermals durch den Blickwinkel von jeweilgem Standort aus verzerrt.
Eine ebenfalls als negatives Relief ausgeführte Quellenangabe – und Verweis auf die Augsburger Ausgabe von Du Breuils Perspectiva Practica – befindet sich an der Zugangstreppe der UB.
Im übertragenen Sinn meint Perspektive freilich auch ganz allgemein den Standpunkt, von dem aus man die Dinge in Betracht nimmt. Damit wird Artakers PERSPECTIVA PRACTICA zum bildhaften Hinweis auf den Ort, an dem (Buch-)Wissen gesammelt und rezipiert wird.

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