22/02/2019

Kolumne
Filmpalast – 05

Oscar in troubles

Filmkritik zu zwei für den Oscar 2019 nominierten Filmen:

Roma (Mexiko, 2018 von Alfonso Cuaron) und
The Favourite (Vereinigtes Königreich, Irland, USA, 2018 von Giorgos Lanthimos)

Verleihung
Sonntag Nacht
24. Februar 2019

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22/02/2019
©: Wilhelm Hengstler

Oscar in troubles

„The past can only be told as it truely is, not was.“ Dieser Satz lässt sich auch auf den Oscar, seine Vergabe am 24. Februar 2019 und die gegenwärtigen Tendenzen um ihn anwenden. Tendenzen? Greift da nicht schon ein Paradigmenwechsel? Oder, noch radikaler gesagt, lösen sich Paradigmen auf, die seit der ersten Oscarvergabe 1929 gelten?
Das Kino verliert laufend seinen Alleinanspruch als Ort des Films: Erst an das Fernsehen, dann via U-Maticbänder an die bildende Kunst oder das Bürgerfernsehen, später an die Heimvideorecorder, Blue-Ray bzw. DVD-Player und jetzt an Handydisplays und Streamingdienste. Zudem haben sich unzählige Festivals als zusätzlicher meist subventionierter Markt etabliert. Ob die gegenwärtige Sintflut der Bilder einen neuen Reichtum oder das Aus für intensivere Bildwahrnehmung bedeutet, ist noch unklar. Auch Hollywood stellt sich mit seiner wichtigsten PR-Veranstaltung, der Oscarverleihung, diesem Wechsel. Mit jeweils zehn Nominierungen für Giorgos Lanthimos The Favourite und Alfonso Cuarons Roma (jeweils auch für „beste Regie“ und „beste Hauptdarstellerin“) kommen alte Paradigmen ins Wanken. Dabei könnten die beiden Filme nicht unterschiedlicher sein.

Roma erzählt in SW von einer Familie in gehobenen Verhältnissen im gleichnamigen Viertel in Mexico City. Alfonso Cuaron, eigentlich ein Regisseur qualitätsvoller Mainstreamfilme (Children of men, Gravity) hat mit Roma einen Autorenfilm geschrieben, inszeniert und als Kameramann auch gleich selber gedreht, der, man muss schon sagen, ein magisches Filmkunststück ist, berührend ohne Sentimentalität.

Giorgos Lanthimos ist mit The Favourite einen umgekehrten Weg gegangen. Der Autorenfilmer ist mit Arthousefilmen wie Dogtooth, Die Alpen oder The Lobster berühmt und zu Recht eine Leitfigur des gegenwärtigen griechischen Kinos geworden. (Wenig scheint der Filmkunst besser zu bekommen, als drangvolle wirtschaftliche oder politische Verhältnisse). Lanthimos stellt in seinen Filmen die Grundannahmen über die Welt radikal in Frage, indem er gleichsam soziologische Happenings inszeniert. Seine im übrigen völlig realistischen Happenings lassen sich mit Glauben von Naturvölkern vergleichen, denen beispielsweise der Zusammenhang zwischen Geschlechtsverkehr und Zeugung nicht bewusst ist und die Schwangerschaft dem Wind zuschreiben. Solche geänderten Weltdeutungen haben natürlich Auswirkungen auf die Familienpolitik.
Mit The Favourite, einem Historiendrama über Königin Anne von England (1665 – 1714) hat Lanthimos seine symbolische Konstruktion neuer Wirklichkeiten aufgegeben und sein Reich surreal-politischer Parabeln verlassen. Er erzählt die erbitterten Intrigen zweier Hofdamen, der historischen Lady Churchill und ihrer verarmten Chousine Abigail, die beide um Einfluss auf die extrem wohlstandsverwahrloste absolute Herrscherin Anne buhlen. Wie schon in seinen früheren Filmen sind die „production values“ excellent, aber die rätselhaften Kunstwelten sind der virtuosen, aber letztlich geheimnislosen Auseinandersetzung zwischen drei Frauen gewichen. Königin Annes Palast wird zur prunkvollen Druckkammer, in der Lanthimos frühere „Metapsychologie“ zum bloß psychologischen Kammerspiel herabgedimmt wird. Bei aller Brillanz lässt The Favourite seine Zuseher eher kalt.

Alfonso Cuarons Roma hat dagegen wie das Leben selbst keine nacherzählbare Geschichte. Wie das Leben selbst besteht die Handlung des Films eher aus wiederkehrenden Motiven und Ritualen: dem Aufwaschen des gekachelten Hausflurs, den häuslichen Arbeiten, dem Spielen der Kinder oder dem Treiben vor dem Haus; ein Ehemann verlässt seine Frau, das schwangere Dienstmädchen Cleo wird von seinem Liebhaber verschmäht, oder die verlassene Ehefrau muss mit ihrem neuen Leben fertig werden. Es passiert fast nichts und das Wenige fügt sich ein in den undramatischen Rhythmus des Lebens. Aber gleichzeitig schimmert durch die vielen Miniaturerzählungen die politische Realität im Mexiko der Siebzigerjahre

Der Paradigmenwechsel an der Oscarnominierung von Roma ist zweifach. Der Film wurde n i c h t auf Englisch sondern auf Spanisch und n i c h t fürs Kino gedreht. Netflix hat Roma für seinen Streamingdienst produziert und nur für den Oscar der Form halber ganz kurz im Kino präsentiert.
Es fragt sich, was hinter der Strategie der Streamingdienste steckt, Starregisseure wie die Cohenbrüder oder eben Cuaron zu engagieren. Geht es um die Entwicklung neuer Produktsegmente? Soll dem koventionellen Filmbetrieb eine Nase gezeigt werden? Oder lässt sich das mit dem kulturellen Ehrgeiz früherer Filmmogule vergleichen, sich klassischer Bücher oder bedeutender Menschheitsthemen anzunehmen?

Auch die Oscar-Anwärterinnen beider Filme als jeweils beste Hauptdarstellerin könnten unterschiedlicher nicht sein. Wie Rachel Weisz als Lady Churchill und Emma Stone als Abigail in The Favourite einander hasserfüllt austricksen ist hinreißend, aber sie werden von Olivia Colman als dumpfe und dabei empfindliche Königin an die Wand gespielt. Wie sie um ihre Grenzen weiß und gegen diese ankämpft, wie sie jedem misstraut und doch nach einer ehrlichen Wahrheit über sich giert und dafür Demütigungen akzeptiert, wie sie ihre Fresssucht oder ihre lesbischen Gelüste durchsetzt, ist ein schauspielerischer Trapezakt ohne Netz. Warum ohne Netz? Weil ihrer Darstellung keine Empathie des Publikums gegenüberstehen darf. Selbst wenn sie ihre 17 Kaninchen, lebende Fetische für ihre allesamt verstorbenen Kinder verhätschelt, rührt das im Lanthimos kalten Universum die Zuseher kaum.
Aber dieses „Spiel“ von Olivia Colman wird in seiner Perfektion fast ununterscheidbar vom „Sein“ der stämmigen Yalitza Aparacio, die als Dienstmädchen Cleo den Film Roma buchtstäblich trägt. Cleo ist Yalitza Aparacios erste Filmrolle. Sie ist eine Laiendarstellerin, wenn auch kein Dienstmädchen wie ihre leibliche Mutter, sondern eine gelernte Kindergärtnerin. Ihre indigene Abstammung verweist auf die in Mexiko immer noch herrschende Unterdrückung der Indigenen und einen aus der Kolonialzeit geerbten Rassismus. Das amikable ja fast liebevolle Verhältnis zwischen Cleo und ihrer Arbeitgeberin ändert an diesem Sachverhalt nichts.
Man darf gespannt sein, ob Yalitza Aparacio, die jetzt reihenweise Preise einheimst auch in ihren nächsten Filmen die große Menschendarstellerin wie in Roma bleibt. Ein Oscar für die Mexikanerin wäre ebenso wie ein Oscar für den Film Roma ein echter Paradigmenwechsel. Und ein starkes Zeichen für den vehementen Selbstdarsteller und Mauernbauer im Weißen Haus.

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