29/04/2019

Filmpalast – 07
Filmkritik

Wilhelm Hengstler zu

BORDER

Regie
Ali Abbasi, Schweden
2018, 110 min.

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29/04/2019

BORDER. Regie: Ali Abbasi, Schweden, 2018, 110 min. Bild: s. Link uncut.at

Außenseiter sind ohne „Insider“ undenkbar, die Grenze dazwischen gehört schon zu ihrer Begrifflichkeit. Vor allem Border thematisiert „Grenzen“ in unterschiedlichen Genres – sozialer Realismus, magische Folklore, Thriller -  und führt einen geradezu philosophischen Diskurs über Außenseiter.

Der schwedische Romancier bzw. Drehbuchautor John Erik Lindqvist hat Glück mit seinen Regisseuren oder umgekehrt die Regisseure mit seinen Büchern. So finster die Nacht, ein Vampirroman wurde beklemmend  atmosphärisch von Tomas Alfredson verfilmt und Ali Abbasi inszenierte 2018 Lindqvists Kurzgeschichte Border. Beide Filme thematisieren Außenseiter: Einmal Vampire, das andere Mal Trolle, diese in der nordischen Mythologie beheimateten Naturwesen. Gemeinsam ist den Filmen eine atmosphärische Stilsichertheit, die sich von einer bloß handwerklichen Perfektion absetzt. Und sie verfügen über eine thematische Vielfalt, die zu komplizierten, fast halsbrecherischen Plots führt.
Auf einer realistischen Ebene löst Tina, die Heldin des Filmes, als Zollbeamtin an der schwedisch-dänischen Grenze die Vorgabe des Titels ein. Und auf der Ebene der Magie erschnüffelt sie mit zuckenden Lippen und einer klobigen Nase die Ängste, die Wut und  die Schuldgefühle der Reisenden und ertappt auf diese Weise etwaige Schmuggler.
Bei Synästhesien – hier die Koppelung von Geruch und Gefühlen – handelt es sich gewissermaßen um Grenzüberschreitungen der Wahrnehmung und Border überschreitet insbesondere auch Grenzen filmästhetischer Wahrnehmung. Die zum Fremdschämen häßliche Tina tritt weder als furchterregendes Monster noch als Objekt des Mitleids für einen blendend aussehenden Erlöser auf. Eine solche Hauptdarstellerin in einem Medium, dessen DNA aus Schönheit besteht, zwingt auch die Zuseher ihre Auffassung von Film und Schönheit zu revidieren.
Tina lebt in einem Haus im Wald und zeigt auf ihren Spaziergängen eine geradezu familiäre Vertrautheit mit Füchsen, Elchen oder Hasen. Die aggressiven, kläffenden Kampfhunde Rolands (Jörgen Thorsson) mit dem sie platonisch zusammen lebt, stellen zu Tinas Narturverbundenheit das Pendant einer instrumentalisierten, denaturierten Natur dar.
Trolle sind menschenähnliche Wesen mit kleinen Schwänzchen und, wie man sehen wird, einem wenig eindeutigen Geschlecht. Auch moralisch sind sie ambivalent, mal hilfreich, mal obstruktiv, eindeutig ist jedenfalls ihre Natur- und Erdverbundenheit. Der Film zeigt Tina Immer wieder wie sie im Boden wühlt. Später wird ihr Vore, dem sie bei ihrer Arbeit begegnet, zeigen, dass der Verzehr von Insekten köstlich und nicht eklig ist – eine weitere Grenzverletzung, diesmal des  Geschmacks bzw. des Ekels. Erst von ihm wird sie erfahren, dass sie kein missgebildeter Mensch sondern ein durchaus perfekter Troll ist.
Das Unbehagen am Aussehen der beiden Trolle wird im Lauf des Films immer stärker von einer Neugier abgelöst, bis dem Zuseher die Leinwand bzw. die Welt ohne Tina oder Vore geradezu unvollständig erscheint. Nicht nur dass Eva Lelander als Tina und vor allem Eero Milonoff als Vore das Kunststück zuwege bringen, durch die dicken Gesichtsprothesen hindurch große Sensibilität zu vermitteln. Sie spielen auch „mit dem Körper“, wie man es nur von den Schauspielern des klassischen Hollywoodkinos kennt. Vor allem Eero Milonoff als Vore, der sich meist leicht gebückt halb von der Kamera abwendet,  fasziniert mit seinem Lächeln, das immer viel mehr sagt, als es eigentlich zu sagen gäbe. Einmal beschwert sich eine Frau am Buffet, weil er vor ihr ein Tablett leer räumt. Und wie Vore sich im Weggehen langsam umdreht und die Frau mit seiner ironischen Ausdruckslosigkeit zum Verstummen bringt, ist ein großes Statement zur Grenze zwischen ihnen. 
Verstärkt wird diese Fremdheit durch seine Aufmachung – halblanges Haar, eine knappe Lederjacke – von der unklar ist, ob sie der properen Sportkleidung der Skandinavier gerade noch entspricht oder sie schon längst konterkariert. Es ist kein Zufall, dass gerade die widerlichsten Typen des Films, die Betreiber und Nutznießer der Pädophilie gleichzeitig die geschniegeltsten sind.
Die den Trollen eigene Unbestimmtheit des Geschlechts stellt eine essentielle Überschreitung, diesmal der Gendergrenzen dar. Tina gesteht Vore verlegen, „dass bei ihr da unten etwas nicht stimmt“und sie keine  Kinder bekommen könne. Aber in der großen Sex- bzw. Liebesszene im Wald wächst der durch und durch weiblichen Tina ein kleiner Penis, mit dem sie den sehr maskulin wirkenden Vore schwängert. Tina und Vore sind nicht nur hässlilch, sie betreiben ihre Vereinigung auch mit archaischer Direktheit, mit Schreien und Grunzen, die alle geschmackvoll-elliptischen Beischlafszenen als gestylte Pornografie entlarvt. Gerade hat sich der auf Schönheit programmierte Kinogeher also an das Aussehen dieser Protagonisten gewöhnt,  schon muss er sich wieder überwinden,  um dieses Liebespaar „anzunehmen“.
Es öffnet sich eine weitere Grenze in Border, und zwar jene zwischen Natur und Zivilisation, zwischen Nomaden und Sesshaften. Border handelt von einer aussterbenden Rasse. Der Film erinnert nicht nur seines Titels wegen an einen Western. Wie die Indianer sind auch die Trolle von ihrer Ausrottung bedroht, nur werden sie statt in Reservate in Anstalten und Psychiatrien gesteckt, wo sie im Rahmen der wissenschaftlichen Forschung bald zu Tode kommen. Den überlebenden Kindern wie Tina und Vore werden ihre Trollschwänzchen abgeschnitten, die Narben am Rücken bleiben als Zeichen ihrer Stigmatisierung.  Vore hatte seine Kindheit in Heimen verbracht. Tina wurde vom Portier des Krankenhauses adoptiert, in dem ihre Eltern starben. Der Österreichische Kinogeher mit Rassenhygiene, Euthanasie, Dr. Gross, Steinhof oder der neuerdings  schärferen Trennung zwischen Asylanten und Einheimischen in seinem historischen Handgepäck, fühlt sich mit diesem Motiv durchaus vertraut.
Border lässt sich in eine Reihe von Filmen stellen, die auf Zivilisationskritik zielen, indem sie die Grenze zur Wildnis überschreiten. In Wild von Nicole Krebitz geht die Protagonistin eine  letztlich zum Scheitern verurteilte Liason mit einem Wolf ein. In Lazzaro von Alice Rohrwacher, leben Landarbeiter wie aus der Zeit gefallen und die Existenz des Titelhelden ist auf magische Weise mit dem eines Wolfes verknüpft . Und in Leave No Trace von Debra Granik entschließen sich Vater und Tochter der Zivilisation zu entsagen und zurück in die Wälder zu gehen.
Vore führt ganz wie ein aus dem Reservat ausgebrochener Indianer seinen erbitterten Rachefeldzug gegen die verhassten Weißen bzw. die menschliche Rasse. Seine radikale Strategie besteht darin, die Menschen dabei zu unterstützen, wie sie den eigenen Nachwuchs zum eigenen, perversen Vergnügen missbrauchen und zu Tode bringen. Tina  als „guter Indianer“ wirkt dagegen mit ihren besonderen Fähigkeiten bei der Ausforschung der Pädophilen. Als sie begreift, dass Vore als unerbittlicher Guerillakrieger Babies raubt und verkauft, liefert sie ihn aus. Während Vores Hass gegen die Menschheit weder Erbarmen noch Schranken kennt, will Tina „niemandem schaden“ – Eine letzte Grenze öffnet sich,  diesmal eine moralisch-humanitäre zwischen Trollen .
Nach seiner Flucht schickt der für tot gehaltene Vore sein Trollbaby in einem  Paket an den Vater (oder ist es doch die Mutter?) Tina. Auch wenn  das Zusammenführen aller Drehbuchelemente am Ende Border etwas von seiner archaischen Wucht nimmt, der Film hat seine Palme als: Gewinner von „Un Certain Regard“ in Cannes verdient. Und viele Zuseher.

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