20/02/2020

J´accuse – Intrige

von Roman Polanski
2019, I/F, 126 min.

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Filmkritik von Wilhelm Hengstler

20/02/2020

J´accuse – Intrige

©: uncut.at

J´accuse – Intrige

Dreyfus, die Geschichte
Zuweilen verwandeln sich reale Geschehnisse in Geschichtsmodelle, gewinnen mythischen Status weit über ihre Zeit hinaus. Die Ermordung von J.F. Kennedy gehört dazu oder der Dreyfus-Skandal, über den Roman Polanski seinen letzten Film gedreht hat. Dreyfuss-Skandal? Irgendwas am nebelhaften Ende des 19. Jahrhunderts, in einem Atemzug genannt mit Zola – wer ist Zola? 1894 wird der Offizier Alfred Dreyfus nicht zuletzt weil er Jude ist, unter mehreren möglichen Verdächtigen ausgewählt, angeklagt und auf Grund falscher Indizien als Spion für Deutschland zu lebenslanger Haft auf die Teufelsinsel verurteilt. Marie-Georges Picquart, durchaus kein Judenfreund, aber mit großer Leidenschaft für das Rechtssystem Frankreichs und dessen korrektes Militär ausgestattet, entdeckt als neu bestellter Leiter der militärischen Spionageabwehrbehörde, dass Dreyfus unmöglich der Spion sein kann. Aber er kommt mit seinem Verdacht nicht durch, zu hochrangig sind die Vertuscher, zu lautstark ist – nicht zuletzt wegen der französischen Niederlage von 1871 gegen Deutschland – der Nationalismus, zu tief verwurzelt der Antisemitismus. Und Dreyfus ist nicht nur Jude, er stammt noch dazu aus dem umstrittenen Elsass. Der Justiz- wird zum Staatsskandal und Frankreich in zwei Hälften, konservativ gegen liberal, links gegen rechts gespalten. Nach dem skandalösen Freispruch des eigentlich Schuldigen richtet Emile Zola einen offenen Brief an den Staatspräsidenten „L´accuse“, in dem er Generalstabsoffiziere, Gutachter und die konservative Presse der Lüge, Rechtsbeugung und des Antisemitismus bezichtigt. Das bringt dem berühmten Schriftsteller eine Verurteilung wegen Verleumdung und ein einjähriges Exil in England ein. Dreyfus selbst wird erst 1906 gänzlich rehabilitiert. Jahre danach lehnt der zum Minister avancierte Picquart dem mittlerweile zum Oberstleutnant beförderten Dreyfus die Bitte ab, seine achtjährige Haft in die Dienstzeit einzurechnen. Das sei bei der augenblicklichen politischen Lage einfach nicht möglich. Ist dieses "es kann nicht sein, was nicht sein darf" schon der Keim der nächsten Ungerechtigkeit? Das alles und mehr erzählt Roman Polanskis J´accuse – Intrige nach dem Buch von Robert Harris An Officer and a Spy.

Verdichtung statt Anekdoten
Um es gleich zu sagen: J´accuse ist ein makelloses Meisterwerk, ein unaufgeregter, steter Fluss aus Bildern und Tönen. Filme bestehen aus unzählbar vielen Einzelentscheidungen und gelegentlich auch aus Zufällen, aber selten fügt sich deren Summe zu einer derart bruchlosen, dichten Textur wie in dem Film des 86jährigen Regisseurs. Polanski verzichtet auf anekdotische Effekte und Überwältigungsbilder des Kinos, er inszeniert sein teures, detailversessenes Historiendrama in Bildern wie aus den Anfängen der Fotografie, aber immer im Dienst struktureller Wahrhaftigkeit. In Spielfilmen kennt man eine lakonische Schlichtheit wie die Eingangssequenz von A`ccuse vor allem aus den neorealistischen Filmen Roberto Rosselinis. Dreyfus wird in die Mitte des riesigen Platzes der Ecole Militaire eskoortiert, wo man ihn degradiert. Natürlich wechseln Nahaufnahmen mit Totalen, aber Polanski benutzt sie nicht zur Emotionalisierung, es geht nicht um den „state of mind“ von Dreyfuss, sondern um den Zustand eines Staates, der im Begriff ist, seine Grundsätze zu verlieren. Die abgerissenen Epauletten von Dreifuss und sein zerbrochener Degen auf dem Steinpflaster bilden das Emblem dazu. Dass der Antisemit Picquart den verurteilten Juden Dreyfuss, den er noch für schuldig hält, vom Rand dieses kalten Spielfeldes durch ein Fernglas mustert – Instrument nicht nur für die militärische, sondern auch Galileos Werkzeug bei einer anderen, rationalen Aufklärung – ist nur eine der Quintessenzen dieses Filmes. Polanski, Regisseur von Filmen wie Chinatown oder Der Pianist verdichtet in einem Detail mehr, als andere Regisseure in der lang ausgewalzten Schönheit ihrer Bilder. Bei einer Observierung in einem Cancan-Lokal sind die Tänzerinnen beiläufig und züchtig zu sehen, erst später schwingen sie, immer noch im Hintergrund, ihre Beine, was die erotische Mentalität der Zeit genauer erfasst, als aufwändige Revuesequenzen. Ein andermal zitiert Polanksi das Dictum des Dramatikers Tschechow, nach dem eine Pistole im ersten Akt an der Wand garantiert im dritten zum Einsatz kommen werde. In J´accuse legt Picquart seinen Dienstrevolver beiseite, bevor er sich mit dem Verteidiger auf den Weg ins Gericht macht. Als sein Begleiter von einem Unbekannten niedergeschossen wird, verfolgt Picquart den Attentäter in einer erfolglosen, ungemein spannenden Jagd, bei der ihm seine Waffe sehr zu statten kommen würde: wieder eine dieser virtuos verkürzten Sequenzen, in der der Regisseur unzählige Verfolgungsjagden geradezu spielerisch verdichtet.
Gerade dass Polanski auf visuelle Abkürzungen zur Gegenwart verzichtet, macht seinen Film aktuell. Nur als er die Todeswünsche für Zola, das Vebrennen seiner Schriften und das Zerstören jüdischer Auslagen zeigt, wird er deutlich. Die labyrinthische Schmuddeligkeit der militärischen Spionageabwehr muss nicht ausgemalt werden, damit einem die Zustände wie im BVT einfallen. Und wenn Picquart, dieser nur seinen Idealen eines gerechten Staates verpflichte Held, gegen die ungeschriebenen Usancen oder geschriebenen Gesetze einer militärischen Welt handelt, ist den Zusehern das Wohlwollen seiner Vorgesetzten, später ihre Ermahnungen und Drohungen, die er fast kommentarlos entgegennimmt, zuletzt ihre Schikanen nur allzu bekannt. So geht es noch heute, sobald man sich außerhalb irgendeines Comments, nicht nur des militärischen begibt. Nicht nur spiegeln die Umwälzungen der Ersten Industriellen Revolution die Digitalisierung, auch die damals durch Zeitungen befeuerte Öffentlichkeit erinnert an die Massenhysterie in den sozialen Medien.

Frauen und Männer
Anfangs mag man sich noch fragen, ob das jetzt mit diesen vielen Schnauzbärten und Melonen noch zwei Stunden so weitergeht, aber bald wird man von der kühlen Diagnose einer Gesellschaft des vorvorigen Jahrhunderts hypnotisiert. Dabei helfen Polanski großartige Schauspieler, die, sogar wenn sie unterspielen, das nur nebenbei zu machen scheinen: Jean Dujardin als Colonel George Picquart, Phillipe Garrel als Alfred Dreyfus, Gregory Gardebois als Henry, der sich mit Picquart ein bitteres, so nie gesehenes Degenduell liefert, oder Mathieu Amalric als absurder Sachverständiger. J´accuse ist ein Männerfilm, man weiß nicht ob man mit diesen in ihre Uniformen und Gehröcke eingezwängten, oft übergewichtigen Geschöpfen Mitleid haben, oder Ekel vor ihnen empfinden soll. Mit Pauline Monnier, der Geliebten von Picquart, gespielt von Emmanuelle Seigner, der Ehefrau Polanskis, hat der Regisseur diesem Männerfilm aber eine wunderbare Frauengestalt implantiert. Das Paar hat sich geliebt, vor der Hochzeit Paulines mit Monnier, während ihrer Ehe und auch als sein Verhältnis in den Wirren des Skandals publik gemacht wurde und die Scheidung Paulines nach sich zog. Nachdem alles vorbei ist und Picquart um ihre Hand anhält, lehnt sie ab. "Warum nicht?", fragt er. "Weil Du nicht für die Ehe geschaffen bist. Und ich auch nicht. Lassen wir alles, wie es ist".
Was für ein Ende!

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