13/12/2019

Gegen das Schweigen (der Geschichte)

Über die Aktualität von Geschichte und das identitätsstiftende Vergessen.

Wenn wir Orte besuchen, Gebäude besichtigen und Landschaften durchwandern, haben viele von diesen ihre Unschuld längst verloren – sie sind durch historische Ereignisse kontaminiert.

Die Ausstellung Kontaminierte Orte zeigt exemplarisch Fälle seit der frühen Neuzeit, beschreibt das jeweilige Geschehen und stellt die Frage, wem Erinnerung nützt, wer sie verdrängt, wer sie steuert oder gar von ihr profitiert.

Bettina Landl zur Ausstellung Kontaminierte Orte im afo architekturforum oberösterreich in Linz zu sehen
bis 31. Jänner 2020

13/12/2019

Kontaminierte Orte', Ausstellungsansicht im afo in Linz. Foto: Violetta Wakolbinger

©: afo architekturforum oberösterreich

Ausstellungsansicht. Foto: Violetta Wakolbinger

©: afo architekturforum oberösterreich

Foto: Violetta Wakolbinger

©: afo architekturforum oberösterreich

Foto: Violetta Wakolbinger

©: afo architekturforum oberösterreich

„Die Irren, sagte er, wollen nur ein wenig über Land gehen. Sie möchten vor unserem Dorf einen kleinen Spaziergang machen. Bis zum nächsten Wirtshaus, von dem sie Gutes gehört haben. Aber zwischen dem Dorf und dem Wirtshaus ist ein Wald; durch den gehen die Irren. Im Wald ist kein Weg, sondern lauter Unterholz, gestürzte Bäume und dergleichen, sodass man leicht abkommt. Auch gibt es Kakadus, Papageien, sogar Affen darin, die sehr schreien. Die Fußgänger werden betäubt, verfallen in Murmeleien und natürliche Geisterstimmen, schreien am Schluss mit, aus Vergnügen, aus Angst, aus Wut. Sodass sie zuletzt nicht mehr wissen, wie sie in den Wald gekommen sind. Ja sogar vergessen, was sie auf dem Spaziergang eigentlich wollten. Und die Ärzte stehen hinten am Dorfrand, gegen den Wald zu, rufen in ihn hinein, rufen den Irren zu, sie möchten doch zurückkommen. Die Irren hören das vor Lärm im Wald gar nicht, wollen ja auch nicht zurück, sondern ins Wirtshaus.“, schreibt Ernst Bloch in Spuren (1969).

Geschichte meint 1. das, was geschehen ist und geschieht, auch das, was einem geschieht, widerfährt und begegnet ist, und was man anderen widerfahren lässt; 2. erzähltes Ereignis; Geschichtlichkeit drückt aus, dass 1. etwas zu einer bestimmten Zeit dagewesen ist, mithin in geschichtlicher Forschung als wirklich Daseiendes ausgewiesen oder wenigstens erschlossen werden kann; 2. dass man sich mit der Feststellung des Dagewesenseins begnügt, aber auch 3. dass etwas Vergangenes weiter wirksam geblieben ist; schließlich auch 4. einen Grundzug alles Menschlichen, eine Grundbedingung alles menschlichen Tuns und Erkennens.
Damit verknüpft ist immer ein Ort bzw. eine Landschaft, in diese menschliches Handeln eingeschrieben wird und überdauert. Das afo architekturforum oberösterreich macht ebendieses Verorten von Erinnerung(en) im Raum zum Thema der aktuellen Ausstellung und fragt in Kontaminierte Orte danach, wie sich Gewalt und Kriminalität in Orte einschreiben oder wie die Rezeption solcher Orte aussieht. Ausgehend von Martin Pollacks Essay Kontaminierte Landschaften (2014) und von der anhaltenden Diskussion um Hitlers Geburtshaus in Braunau am Inn, spannt Architekturhistoriker und Kurator Georg Wilbertz einen weiten historischen und geografischen Bogen und setzt sich mit 14 exemplarischen Orten in Oberösterreich auseinander, an denen Gewalt, Kriminalität, soziale oder ökonomische Verwerfung stattfanden, um sie vor dem Vergessen zu bewahren und die Kluft zwischen offizieller Geschichtsschreibung und kollektiver Erinnerung zu überbrücken.
Eingebettet ist das Thema in den umfangreichen Diskurs zur Ortstheorie, wobei die Aspekte und Fragestellungen, die unmittelbar mit dem Thema der Gedenk- und Erinnerungskultur zusammenhängen, im Vordergrund stehen.

Einer jener Orte ist das Prunerstift in Linz: Mit der Nutzung des durch den Linzer Bürgermeister Johann Adam Pruner (1672-1734) gestifteten sog. Prunerstifts (erbaut 1734-39) als offizielle Irrenanstalt ab 1833, beginnt in Linz und Oberösterreich die institutionalisierte Betreuung und Verwahrung von psychisch Kranken. Bereits ab 1788 waren Geisteskranke in einem gesonderten Trakt des Stifts („Tollhaus“) untergebracht. Im Verlauf des 18. Jahrhunderts machte die Beurteilung psychischer Erkrankungen und die Verwissenschaftlichung der Psychiatrie deutliche Fortschritte. Man widmete sich mehr dem individuellen Einzelschicksal und verfeinerte die Diagnostik. Jedoch fanden viele der in dieser Phase theoretisch begründeten Behandlungsansätze nur vereinzelt Eingang in die pflegerische Praxis. Auch die Frage der optimalen Unterbringung und der Ausgestaltung der Anstalten spielte vermehrt eine Rolle. „Human“ gestaltete Räumlichkeiten sollten die Heilungschancen verbessern. Im Linzer Prunerstift war von alldem nichts zu spüren: Die Kranken wurden, nach Geschlechtern getrennt, in 24 vergitterten Zellen mehr notdürftig verwahrt als medizinisch betreut. Viele waren ganztägig mit Ketten fixiert. Ausgebildetes medizinisches Personal fehlte bis zu einer Anstaltsreform im Jahr 1834. Eine psychiatrische Behandlung im Wortsinn fand nicht statt. Die Wärter besserten ihr Gehalt dadurch auf, dass sie die Kranken gegen Trinkgeld Neugierigen vorführten.

Neben dieser Erzählung ermöglicht die Ausstellung auch eine Auseinandersetzung mit weiteren Orten wie dem Kriegsgefangenenlager in Mauthausen, der Psychiatrischen Klinik Niedernhart, dem Sozialpädagogischen Jugendwohnheim Wegscheid, dem Intertrading-Gebäude und dem Landesgericht in Linz, dem Benediktinerstift in Kremsmünster, der Jahnturnhalle in Ried im Innkreis, dem „Dichterstein“ in Offenhausen, der Siedlung Ennsleite in Steyr, dem Richtstättenweg in Lochen sowie dem Frankenburger Würfelspiel in Frankenburg.
All diese Beispiele machen deutlich, dass sich kollektive Erinnerungen immer in irgendetwas manifestieren, sei es in einem Ort, einer Persönlichkeit, einer mythischen Gestalt, einem Ritual, einem Brauch oder einem Symbol – also eine Gestalt annehmen bzw. einen begrifflichen Topos (wörtlich: einen Ort) bilden, in dem gemeinsame Assoziationen kondensieren. Erinnerungsorte sind identitätsstiftend. Dabei haben verschiedene gesellschaftliche Gruppen durchaus unterschiedliche Erinnerungsorte.

Die Ausstellung im afo hat ihre eigene innere Ordnung, die sich aus Bezügen entwickelt hat und ist nicht, wie man annehmen würde, chronologisch aufgebaut. Vom Dokument bis zum Buch sowie über Interviews mit ZeitzeugInnen wird der Zugang zu dem Thema bzw. den Themen auf vielfältige Weise ermöglicht. Auf die Darstellung kontaminierter Orte im Österreich der Nazizeit hat man bewusst verzichtet. Eine solche Entscheidung ist begründet in der Dimension der Verbrechen von 1938 bis 1945 und der Tatsache, dass diese durch berufenere Institutionen, Gedenkstätten und Forschungseinrichtungen bereits sehr weit aufgearbeitet und dokumentiert sind.

Indem gleichzeitig auf politische Inanspruchnahme oder den politischen Missbrauch bestimmter Begriffe und Phänomene hingewiesen wird, macht die Ausstellung anschaulich, dass einzelne Fragestellungen höchst aktuell sind. Neben der Fülle von Aspekten und Fragen, die mit den konkret ausgewählten Orten und Bauten verbunden sind, geht es unter anderem darum, möglichst viele Problemstellungen und Phänomene anhand der Einzelbeispiele exemplarisch zu erfassen und darzustellen. Ziel ist nicht nur die Präsentation eines möglichst breiten Spektrums, sondern die Erstellung eines „Katalogs“, der sich dem schwierigen Umgang mit derlei Orten und den damit verbundenen Herausforderungen annimmt.

Falsch verstandene Erinnerung, das Exponieren als „faszinierender“ Ort des Gruselns oder der voyeuristischen Neugierde sind Indizien dafür, dass sich mit zeitlichem Abstand die Erinnerung und die Rezeption der Taten wandeln. Es gibt nicht DIE Erinnerung, nicht DIE Erzählung, die mit einem kontaminierten Ort verbunden ist. „Kontaminierte Orte“ zeigt bzw. zeigen vielfältige Möglichkeiten einer Auseinandersetzung: Die Spanne kann von der politisch-gesellschaftlichen Instrumentalisierung, über Legitimations- und Identifikationsstrategien bis hin zur ökonomischen Nutzung reichen. Dem gegenüber stehen Interessen und Strategien des Vergessens, der Tilgung oder der Verdrängung. Beide Richtungen können je nach historisch-politischer Situation in ein dynamisches Wechselverhältnis treten. Ein spezifischer Aspekt ist die touristisch-ökonomische Nutzung derart problematischer Orte. Der in den letzten Jahren verstärkt geführte Diskurs zum Stichwort „Dark Tourism“ stellt bezüglich der Theoriebildung und theoretischen Aufarbeitung solcher Orte einen wichtigen Beitrag dar. Damit wird in und mit der Ausstellung ein sensibler Umgang mit diesem Thema eingefordert und eingeübt und das notwenige Gespräch darüber (weiter-)geführt.

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