21/05/2016

Rezension und Gedanken zum Buch
Arbeit mit der Öffentlichkeit. 63 Jahre danach. Jochen Gerz
von Emil Gruber

Arbeit mit der Öffentlichkeit.
63 Jahre danach. Jochen Gerz

Werner Fenz, Hg.
Verlag für moderne Kunst, Wien
216 Seiten, Deutsch/Englisch
287 Bilder
ISBN 978-3-903004-95-5
€ 28,00

21/05/2016

63 Jahre danach, Standort Grazer Burg, März 2010.

©: Institut für Kunst im öffentlichen Raum Steiermark - KIÖR

Buch: Arbeit mit der Öffentlichkeit. 63 Jahre danach. Jochen Gerz, 2016

Bereits in seinen ersten Arbeiten suchte Jochen Gerz die Kooperation mit den Menschen auf der Straße. 1969 befragte er 600 Arbeiter des Chemiekonzerns Hoffmann-La Roche zu deren Verständnis von Kunst. Im selben Jahr ließ der Künstler tausende rote Karten von Hausdächern in Basel regnen und informierte darauf die Passanten, ihr Verhalten wäre ab sofort Bestandteil eines gerade im Entstehen begriffenen Buches.
Bis heute geben die Inanspruchnahme des Publikums und eine Auslagerung  des Entscheidungsprozesses, was als „Kunst“ gezeigt werden wird, den Rahmen für die Projekte des Jochen Gerz vor.
Trotzdem oder gerade deshalb gehen seine Arbeiten keinen Kuschelkurs im öffentlichen Raum ein. Sie verlangen nach Positionierung, fordern und fördern Nachdenken und Eigeninitiative über das bloße Betrachten hinaus.

Graz hatte mehrfach die Gelegenheit, Erinnerungsarbeit a la Gerz für die nach wie vor in vielen Punkten noch zähe Aufarbeitung der NS-Zeit in den aktuellen Diskurs einfließen zu lassen.
Eine doppelseitige Installation „zierte“ 1988 das Rathauseck zur Herrengasse im Rahmen eines steirischen herbst-Projekts zu 1938. Der Grazer An/ Schluss /Heute ist / Gestern war ein reflexives Vexierspiel aus Text und Bildern.
1996 gewannen der Künstler und Esther Shalev-Gerz einen Wettbewerb zur Gestaltung der Gedenkstätte am Feliferhof – Schauplatz zahlreicher Hinrichtungen während der NS-Zeit.
Die Arbeit Die Gänse vom Feliferhof wollte jeden neuen Rekruten mit einem modifizierten Fahnenappell als Frühwarnsystem aktiv in Erinnerungsarbeit einbinden. Trotz einer einstimmigen Befürwortung der Jury und mehrfachen Interventionen von verschiedenen Stellen wurde das Projekt seitens des Bundesheeres nie realisiert.
2008 gestaltete Gerz die – glücklicherweise – bis heute existierende Installation im Burgtorbogen Ich Sigfrid Uiberreither Landeshauptmann.
2009 erging ein Aufruf an die steirische Bevölkerung, über Text-Bild-Kompositionen zur NS-Vergangenheit in der Steiermark abzustimmen. Ein Jahr später versammelte 63 Jahre danach die „Volksentscheide“ in 18 über die Steiermark aufgestellten Erinnerungszeitungen. (Ursprünglich sah das Projekt 24 Plätze vor, jedoch wurden zwei Sujets in Graz und vier Tafeln in der Reststeiermark abgelehnt. Siehe dazu den Link zum 2010 in gat erschienenen Artikel von Antje Senarclens de Grancy).
2014 erfuhren die Installationen eine peinliche und ununwürdige Demontage. Einer Verlängerung des erfolgreichen Projekts wurde von der Grazer Stadtregierung mit Stimmen der ÖVP und FPÖ gegen die Stimmen von SPÖ, KPÖ und Grünen nicht zugestimmt. Die Gründe waren fadenscheinig.
Andere Gemeinden dagegen waren vom Nutzen der Installationen weiterhin überzeugt und hätten gerne ihre Tafeln noch länger stehen gehabt. Gerz wollte ein fragmentarisches Überleben von 63 Jahre danach jedoch nicht akzeptieren, was das Aus für das Gesamtprojekt bedeutete.

Werner Fenz, der ehemalige Leiter von Kunst im Öffentlichen Raum und Begleiter aller Gerz-Projekte hat nun ein Buch zu den Auseinandersetzungen herausgegeben.
Arbeit mit der Öffentlichkeit. 63 Jahre danach. Jochen Gerz ist eine aufschlussreiche Materialiensammlung geworden, vom Ursprung des Projekts bis zu seiner politisch bedingten Entsorgung. Fenz hat penibel Kommentare, Zeitungsartikel, Stellungnahmen, offene Briefe an die verantwortlichen Politiker sowie ein umfangreiches Bildarchiv rund um das polarisierende Projekt zusammengetragen.
Begleitet wird die Sammlung von Essays und Aufsätzen mit vertiefenden Einblicken in und rund um die Arbeitsweise von Gerz.
Der Historiker Heimo Halbrainer steuert ein absolut lesenswertes Kapitel zur teilweise fragwürdigen Denkmalkultur nach Ende des Zweiten Weltkriegs in der Steiermark bei.
Für Jochen Gerz selbst war 63 Jahre danach übrigens auch immer temporär angelegt. Er erwartete sich jedoch – durchaus verständlich – einen angemessenen Abschluss. Ein Resümee, zum Beispiel ein Symposium über Resonanz und Perspektive von Gedenkarbeit im öffentlichen Raum.
Für manche mutmaßlich zuviel der Erinnerung.

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