08/10/2015

Der Grazer Literat Wilhelm Hengstler über The Specter of Gardenia, 7 Pleasures, Mein Kampf und Vergeetstuk.

08/10/2015

The Specter of Gardenia oder der Tag wird kommen

©: Heta Multanen
©: steirischer herbst

Nach so vielen Jahren begrüßt Veronica Kaup-Hasler nun die Ehrengäste schon völlig unaufgeregt und sagt in ihrer programmatischen Rede zum diesjährigen herbst-Motto kein falsches, aber leider auch kein originelles Wort. Das Thema des steirischen herbst 2015Back to the Future – bezieht sich auf die drei Zeitreise-Filme des Hollywood-Routiniers Zemeckis. Als ästhetisch-intellektuelle Visitenkarte des ehemaligen Avantgarde-Festivals hätte sich an Stelle von Zemeckis zweifellos amüsanten Filmen auch jemand wie Chris Marker mit seinem enigmatischen La Jetee (Am Rande des Rollfeldes) angeboten. Ein kleines Festival mit einschlägigen Filmen wäre erhellend gewesen oder ein ideologiekritischer Blick auf Time Travel als Subgenre der Science Fiction. Aber was soll`s, im Festivalzentrum war von der Ferne einschlägiges Filmmaterial auf kleinen, eng gereihten Monitoren zu sehen.

The Specter of Gardenia oder der Tag wird kommen
Immerhin bestreitet in dem mit Literatur nicht gerade übermäßig beschwerten steirischen herbst der bedeutende Autor Josef Winkler mit seinem Text The Specter of Gardenia oder der Tag wird kommen, zu dem der Tiroler Johannes Maria Staud die Musik komponierte, die Eröffnung. Intendiert war unter der Regie der ehemaligen Schlingensief-Assistentin Sofia Simitzis mit einem fulminanten Johannes Silberschneider als Schauspieler/Performer ein neues, endlich wirklich zeitgenössisches Musiktheater – kein kleines Vorhaben, selbst für lange 1 1/2 Stunden. 
Bei The Specter of Gardenia handelt es sich um einen Frauenkopf von Marcel Jean im MOMA, dessen Augen mit Reißverschlüssen versehen sind und der um den Hals eine Filmrolle trägt. Winkler öffnet einen Reißverschluss und heraus kommen Bilder aus seiner Kärntner Schreckenskindheit, Überschreibungen bzw. Anklänge an den Surrealismus und ein wenig an Handke erinnernde Schmähreden ("Ihr Erdöl-Gesellschaft..."). Das ist für sich genommen schon ein reiches Programm und die gediegen-neue Musik von Staud passte wahrscheinlich sehr gut dazu, würde sie nicht von einem auf alt gemachten S/W-Amateurfilm meist zur Filmmusik degradiert. Dem Film, projiziert durch eine unregelmäßige Maske, ist die Begeisterung seiner Macher über ihre Einfälle schmerzlich anzusehen.
Wie engagiert Johannes Silberschneider Winklers Text auch performierte, die illustrativen Inszenierungseinfälle – etwa nackt einen Anthropozentrismus umzukehren, ein Bild mit einem langen Zauberpinsel zu schreiben, einen grellen Neontunnel (das Auge des Specter?) zu passieren, Musiker, die als Raumfahrer oder Würfel über die Bühne defilieren – waren ein bisschen zu viel. Die Trashästhetik einer Regie a la Schlingensief stand vermutlich im Widerspruch zu Text und Musik, die eher zu einer Art Hochkultur tendieren.
Reverse Missverständnisse: Josef Winkler war schon einmal, 2001 mit einem Stück namens Tintentod, im steirischen herbst. Es ging um einen aus seiner archaischen Kindheit in den Kunstbetrieb gefallenen Autor. Vielleicht weil Kritiker nicht so gern Kritik hören, oder Winkler damals noch nicht Büchnerpreisträger war, wurden Aufführung und Stück damals zu Unrecht verrissen. Die Inszenierung von The Specter of Gardenia wird dagegen einstimmig hoch gelobt.

7 Pleasures
Matte Ingvartsens Arbeit 7 Pleasures am Eröffnungswochenende im Dom in Berg war sehr viel faszinierender, als es die Spekulation mit Nacktheit und sinnlichen Freuden erwarten ließ. Abgesehen davon, dass die sieben Etappen nicht wirklich unterscheidbar waren, reichten die Bilder weit über die "lustvolle Kraft des Vergnügens" hinaus bzw. eigentlich zurück. Nachdem sich die Darsteller im Publikum erhoben, ihre Kleider abgelegt und in der entferntesten Ecke der Bühne zu einem Haufen Fleisch jenseits jeder Individualität geworden waren, drängte sich die Erinnerung an Benns Gesänge auf: "O daß wir unsere Urahnen wären / Ein Klümpchen Schleim in einem warmen Moor. / Leben und Tod, Befruchten und Gebären / glitte aus unseren stummen Säften vor".
Danach wälzt, fließt, schiebt sich diese ... Masse unendlich langsam hinter eine Couch, über die Lehne dieser Couch und diagonal über die Bühne dem Publikum entgegen. Dass das öde Bühnenbild dem perversen Alptraum eines IKEA-Designers gleicht, betont nur, dass hinter sexueller Zweisamkeit noch etwas Unheimlicheres steckt, in dem Konzepte wie Individualität oder Sprache keine Bedeutung haben. Dieser Beginn ist auch schon der Höhepunkt eines Abends, sein Rest wird aber auch nie langweilig. Später kommen Kleidungsstücke ins Spiel, rudimentäre Aggressionen, Laute werden hervorgebracht, aber all das verlässt nie den archaischen, nur durch die Körper gebildeten Raum, der sich glücklicherweise auch nie ganz enträtseln lässt. Begeisterter Beifall für ein schönes Konzept und eine – schon wegen der extremen Verlangsamung – großartige "tänzerische" Leistung.

Mein Kampf, Band 1 & 2
Rimini Protokoll, eine Supergruppe des postdramatischen Theaters, produziert ähnlich wie Wallraff Expertisen über die soziale Wirklichkeit. Aber während sich Wallraff in die Abgründe der Wirklichkeit hinein schwindelt, ziehen Helgard Haug, Stefan Kaegi und Daniel Wetzel, aus denen das Rimini Protokoll besteht, Fachkräfte, "Experten für den Alltag" heran: normale Bürger, die als Schauspieler/Performer ihre Lebens- bzw. Berufserfahrungen in das jeweilige Projekt einbringen. Zuletzt war das Rimini Protokoll, 2009 mit Radio Muezzin im steirischen herbst, in dem es um die Ablöse der Gebetsrufer von Kairo durch eine zentrale Tonbandbeschallung ging.
2015 gastiert Rimini Protokoll im Rahmen des steirischen herbst mit Mein Kampf, Band 1 & 2 im Grazer Schauspielhaus. Anlass ist das 2015 auslaufende Urheberrecht des 1925/26 erstmals veröffentlichten Buches. Untersucht wird, wohin die 13 Millionen Exemplare verschwunden sind und wie mit Hitlers so berüchtigten wie flüchtig gelesenem Bestseller in Zukunft umzugehen sei. Derzeit ist es antiquarisch und im Internet erhältlich, sein Druck und seine Verbreitung, anders als in Ländern wie Indien, hierzulande verboten. Das Kultbuch der Nazis, wie die meisten Kultbücher eher schlecht geschrieben, wird zum Katalysator für ein weites Feld, auf dem sich der Zuseher gelegentlich wie in einem bibliothekswissenschaftlichen Seminar fühlt. Es geht um unterschiedliche Ausgaben, von der Volks- über die Jubiläumsausgabe, um exotische internationale; dann um die Entnazifizierung ab 45, und die Entsorgung des Buches in Keller, Dachböden und in die Giftschränke der Bibliotheken hinein. Rimini Protokoll hat gleichsam experimentell in Weimarer Gärten und in Antiquariaten nach dem Buch gegraben (in Graz eine Jubiläumsausgabe im Schuber um angemessene 300 EU). Obwohl die "Experten" auch diesmal faszinierend sind, stellt der Abend einige Anforderungen an die Konzentration des Publikums. Alon Kraus, ein israelischer Rechtsanwalt, stieß in der Universitätsbibliothek zufällig auf die Bibel des Nationalsozialismus, las gefesselt im Stehen drei Stunden am Stück, wurde durch fortgesetzte Lektüre von seiner Schreibhemmung geheilt und baggert seitdem in seiner Germanophilie sogar Mädchen mit Hilfe des Buches an. Der deutsch-türkische Rapper Volkan Türeli zieht dagegen die japanische Manga-Version vor. Einige seiner Songs, die prononciert "deutsch" die rechte Szene provozieren sollen, wurden verboten. Ein verstörendes Detail liegt darin, dass ein Bandkollege inzwischen zum IS gewechselt ist. Der blinde Christian Spremberg braucht einen Einkaufswagen, um die fünf Bände von Mein Kampf in Blindenschrift herein zu rollen und der Bücherrestaurator Matthias Hageböck leidet, wenn sich die anderen das Buch baskettballmäßig zuwerfen. Vor allem mit Sibylla Flügge, einer feministischen Rechtswissenschaftlerin um die 60, kommt die inhaltliche Analyse in den Focus. Sie hat als Schülerin ihr Exzerpt von Mein Kampf den Eltern unter den Weihnachtsbaum gelegt, die das Geschenk nicht besonders schätzten. Und sie erinnert sich nicht nur, wie geschockt ihr Lehrer darüber war, dass sie das Buch kannte, sondern zieht auch eine Linie zum antifaschistischen Kampf während der 68er Jahre. Das alles wird schnell, auf coolem und hohen Niveau abgehandelt und erfährt noch Beschleunigung durch einen (manipulierten) Zufallsgenerator, der jeweils den Anfangsbuchstaben eines Themas ausspuckt. Das Bühnenbild erinnert anfangs an das Altwarenlager einer wohltätigen Organisation, entpuppt sich nach einer Neunziggraddrehung als überdimensioniertes Exemplar von Mein Kampf mit integrierten Spielebenen und BiIdschirm, von dem "Experten" dozieren. Durch das konventionelle Bühnenbild reduziert sich allerdings die dokumentarische Kraft und wird ein bisschen zu 120 gekonnten, für den pädagogischen Alltag allerdings auch allzu aufwändigen, Unterrichtsminuten. Wie lautet das politisch korrekte Fazit? Ein wichtiger, ein unverzichtbarer Abend!

Vergeetstuk
Tom Struyfs Vergeetstuk (Stück vom Vergessen) am 2.10. im Festivalzentrum war eine dieser kleinen Aufführungen des steirischen herbst, die viel interessanter sind, als die gehypten. Ausgangspunkt ist ein altes Foto, bei dem sich der Autor partout nicht darüber klar werden kann, wen es zeigt. In seiner "autobiografischen" Performance-Erzählung leidet der 31-Jährige auch an Gedächtnislücken, die mindestens Alzheimer nahelegen, und nimmt in der Folge sein Publikum mit auf seine Reise zu Spezialisten –  u.a. einem Neurochirurgen, einer Philosophin, einem Rückführungstherapeuten und seiner Großmutter, die weiß, wer auf dem Foto ist, es dem Enkel aber nicht sagt. Außerdem findet Tom im Konzert eine neue Freundin (seine 35.!). Natürlich erfährt der Erzähler auf seiner Reise nichts über die Ursachen seiner Gedächtnislücken, klar wird dafür, dass seine geliebte Oma, deren Mann an Alzheimer gestorben ist, eine beeindruckende Person war. Allmählich verliert sich der "wissenschaftliche" Aspekt, und es geht in dieser Geschichte, deren grundsätzliche Einfachheit durch ständige Vergesslichkeiten kaschiert wird, immer mehr um den Umgang miteinander und um die Liebes(un)fähigkeit des Protagonisten. Happy End am Ende, nachdem Tom seine Großmutter in der Schweiz, wo sie ihre Flitterwochen verbrachte, verlässt und gerade noch rechtzeitig zu seiner Freundin zurückkehrt. Und wie in allen guten Geschichten bleibt ein Geheimnis: wer auf dem Foto war, erfährt man nicht. Tom Struyf erzählt seine Geschichte mittels Standbilder und kleinen Filmen, die Übersetzung aus dem Flämischen wird über der kleinen Leinwand eingespielt. Das alles ist sehr unmittelbar, hat großen Charme und wirkt authentisch, die erzählerischen Details verweisen jedoch virtuos aufeinander und fügen sich zu einem ausgefuchsten Text. Vergeetstuk firmiert im Programm als Theater/Performance. Nicht dass solche Einordnungen wichtig wären, aber vielleicht repräsentieren diese "Mischformen" viel mehr Erweiterungen eines Literaturbegriffs als der Slam- und Twitterhype.

Terminempfehlungen

Netzwerktreffen
16. + 17.11.2023
 
GAT+