29/07/2020

Learning from Quarantine

40 historische Geschehnisse während des COVID-19-Lockdowns 2020 und deren urbane Schlussfolgerungen für die Zukunft

Autor
David Calas, Architekt & Urbanist | Studio Calas, Wien

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Empfehlung von
Emil Gruber

29/07/2020

Cover. Alle Grafiken und Texte darunter sind mit Angabe des jeweiligen Abschnitts aus “Learning from Quarantine“ entnommen.

©: Studio Calas

Abschnitt 03 – Soziales Interaktionsmodell (nur temporär?). Das Maßnahmengesetz sieht unter anderem einen Mindestabstand von einem Meter gegenüber anderen Menschen vor. Öffentliche urbane Orte sind für eine derartige Regelung nicht ausgerichtet, weshalb es zu Reibungen zwischen Gesetzesgrundlage und Implementierung kommt.

©: Studio Calas

Abschnitt 07 – Die vernetzte Gesellschaft (es funktioniert doch...) ...Der von Manuel Castellis und Jan van Dijk verwendete Begriff „Network Society“ zur Beschreibung einer digitalen Gesellschaft wird während des Lockdowns in der Praxis bestätigt. Sozial-morphologisch bedeutet "Network Society“ eine Gesellschaft, die sich sozial-kulturell und aktivitätenbezogen um technologische Netzwerke entwickelt.

©: Studio Calas

Abschnitt 13 – Öffentliches wandert ins Private (Umkehrreaktion). Öffentlich/privat verschwimmende Grenzen sowie eine partielle Inversion wurden bereits mit dem fortschreitenden digitalen Zeitalter erkannt. Verlagerte physisch/digitale Räume, die während des Lockdowns eine Abwanderung öffentlich ausgetragener Aktivitäten in den Privatraum ergeben.

©: Studio Calas

Abschnitt 26 – Kontaktlose Umgebung (planerischer Aufruf?). Kontaktlose Schnittstellen mit dem Physischen ermöglichen die Interaktion mit dem Raum, übergeben jedoch der Technologie die Kontrolle über die Bedienung der Umgebung. Die menschliche Komponente riskiert, von der zunehmenden technologischen Umgebung chauffiert zu werden, ohne über Geschwindigkeit und Wegrichtung entscheiden zu können. Urbaner und privater Raum werden zum automatisierten Apparat, der unidirektionale Einfluss durch die Benutzer nimmt ab.

©: Studio Calas

Abschnitt 40 – Exklusive Räume (befugte Benutzung). Enge Wohnverhältnisse und sozio-ökonomische Missstände benötigen den öffentlichen Raum als Ventil. Letztlich ein Ort, wo Gesellschaft sowie Aneignung und Sozialisation sein dürfen bzw. müssen. Veränderte Regelungen werden an den genannten Fundamenten der öffentlichen Raumnutzung rütteln.

©: Studio Calas

Die weiter anhaltende Pandemie hat eine Zäsur gesetzt. Es gibt keinen Bereich des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lebens, der nicht beeinflusst wurde, der plötzlichen Veränderungen ausgesetzt war. Wie stark am Ende neue Formen des Miteinanders und des Gegeneinanders unser Leben bestimmen, ist noch nicht vorhersehbar. Wir stecken mitten in einem Prozess mit offenem Ende. Anders wird vieles sein, wenn der aktuelle Sonderzustand in eine neue Normalität münden wird.
Das Virus hat eine Reihe von historischen Ereignissen ausgelöst. Im Fluss der täglichen Nachrichten verschwindet so mancher Umbruch schnell wieder aus dem öffentlichen Bewusstsein. Ein Teil der Neuordnungen hat sich ohne große Konflikte durchgesetzt. Andere Vorgaben wie Maskentragen und Abstandhalten polarisieren weiter. Im Spannungsfeld von Wunsch nach dem bisherigen Leben und Akzeptanz neuer Tatsachen finden sich alle Abstufungen von blinder Folgsamkeit bis totaler Ignoranz. Zukunftsängste plagen die einen, unerwartete Gewinne verbuchen andere.

Konsequenzen aus diesem globalen Impakt zu ziehen, wird niemandem erspart bleiben. Der Architekt und Urbanist David Calas betreibt seit 2014 ein gleichnamiges Studio in Wien. Im Lockdown zwischen dem 19.3. und dem 27.4.2020 nahm er sich die Zeit, die täglichen Nachrichten auf neue oder ungewöhnliche Informationen zu untersuchen. Signifikantes wurde, mit grafischen Elementen unterstützt, ausgewertet. In Zusammenarbeit mit seinem Team ist daraus Learning from Quarantine entstanden.
Auch wenn David Calas sanfte Selbstzweifel hegt, ob alles an Auswahl gelungen sei, ist sein schmales Buch ein gut gefülltes Depot mit Anmerkungen zu Gesellschaft, Urbanität, Technologie und andere darum kreisende Themen. Der Wert dieser gesammelten Momentaufnahmen wird für später in der – diesmal zeitlichen – Distanz somit erhalten bleiben. Calas' Gedanken sind ein Angebot für Diskussionen, wie es mit einem Leben mit dem Virus aber auch danach weitergehen wird – Verwerfungen und Utopien nicht ausgeschlossen.
Architektur und künftige städtebauliche Maßnahmen werden gefordert sein, im Kontext von politischen Maßnahmen neu zu denken. Für Calas ist der bestehende öffentliche Raum für Ausgangsbeschränkung und „Social Distancing“ in vielerlei Hinsicht ungeeignet. Sollten daher aktuelle Verhaltensregeln längerfristig anhalten oder später einmal wieder aufgenommen werden, wird sich Stadtraum anders als bisher definieren müssen.
Mit dem teilweisen Sperren von Straßen wurde bereits am 23.3.2020 in New York versucht, dem Abstand genügend Platz zu geben. Damit entstanden neben neuen Überlegungen zur Mobilität auch Fragen zum bisherigen Umgang mit der Verdichtung von Städten. Unmittelbar im Zusammenhang steht damit der Aktivitätsradius der Bewohnerinnen und Bewohner. (Bürgermeisterin Anne Hidalgo denkt mit der praktisch motorfreien Stadt der kurzen Wege rund um das Herzstück von Paris, den Champs Elysees, sogar noch einen Schritt radikaler weiter.)
Als negativen Gegenentwurf zitiert Calas die Schließung der Bundesgärten in Wien. Mit einem Schlag wird öffentlicher Raum nicht mehr verfügbar und löst eine heftige Debatte darüber aus, wem nun die Stadt „gehört“. (Das autoritäre Bestimmen der Politik, wer nun an sich öffentlichen Raum betreten darf bzw. welche Bedingungen im Vorfeld erfüllt werden müssen, findet aktuell in der Absurdität rund um die Eventzone hinter Gittern am Grazer Karmeliterplatz lokal eine weitere Spielform).
Der Balkon, auf dem musiziert und über den mit der Außenwelt kommuniziert wurde, erhielt im Lock-Down eine völlig neue Relevanz als Bauelement. Der private Frei-Raum wurde zu einem Luxusgut. Die Größe wie auch das Fehlen weisen schon von außen auf soziale Ungerechtigkeiten hin.
Wo genügend Platz ist, erfährt der private Raum auch innen eine hochgradige Wertschätzung. Calas spricht vom Wohnzimmer als neue App, als Endgerät, in dem eine Zeit lang sowohl Kommunikation wie auch Aktivitäten nach außen stattfinden (müssen). Wo zuwenig Raum ist, soziale Gefüge nicht intakt sind, steigen Ängste, Depressionen, kommt es vermehrt zu häuslicher Gewalt.
War bisher die Tendenz, vom strukturell schwächeren Land in die Stadt zu ziehen, löste der Lockdown eine Umkehrbewegung aus. Wer sich ein Wochenendhaus leisten konnte, oder noch Familie am Land hatte, verließ die Stadt, um mehr – unkontrollierte – Freiräume zu finden. Nicht selten wurde damit auch der singulären sozialen Isolation in der Stadt entgegengewirkt.
Absurditäten werden behandelt, wie die Phase des massiven Erdölpreisverfalls, als plötzlich die Erzeuger zahlen mussten, um den Rohstoff aus den übervollen Lagern zu bekommen. Oder frische Ideen, wie die Ankündigung Amsterdams, erste Donut-City zu werden. Dieses Modell der britischen Ökonomin Kate Raworth bündelt die Abhängigkeiten von Wirtschaft, Gesellschaft und Politik neu, setzt dabei in hohem Maß auf soziale Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit.

Die vierzig Abschnitte in Learning from Quarantine sind Materialsammlung, Rückblick und Gedankenspiel, kurz bester Stoff für viele Diskussionen, die in nächster Zeit zu führen sind.

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Studio Calas
Learning from Quarantine
40 Historische Geschehnisse während des COVID-19-Lockdowns und deren urbane Schlussfolgerungen für die Zukunft
92 Seiten, € 12,00; direkt beziehbar unter studio-calas.net

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