16/08/2019

Potemkinsche Dörfer unserer Zeit

Fotografien aus Gregor Sailers Werkgruppe The Potemkin Village sind bis 5. Oktober 2019 im Atelier Jungwirth in Graz zu sehen.

Martin Grabner hat sich die Ausstellung angesehen und mit dem Fotografen gesprochen.

Das Buch The Potemkin Village ist in der Ausstellung, beim Künstler wie auch im Buchhandel erhältlich
(und teilweise vergriffen).
ISBN 978-3-86828-827-8
Kehrer Verlag

Atelier Jungwirth
Opernring 12, 8010 Graz
bis 5. Oktober 2019
Mi-Fr, 14-17 Uhr, Sa 11-15 Uhr
und auf Anfrage

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16/08/2019

Suzdal IV, Vladimir Oblast, Russia, 2016. Foto: Gregor Sailer

Carson City VI, Vargarda, Sweden, 2016. Foto: Gregor Sailer

Junction City, Fort Irwin, US Army, Mojave Desert, California USA, 2016. Foto: Gregor Sailer

Schnöggersburg I, German- Army, Sachsen-Anhalt, Germany, 2017. Foto: Gregor Sailer

Gregor Sailer bei der Ausstellungseröffnung. Foto: Atelier Jungwirth

Die Fotografien im Ausstellungsraum des Atelier Jungwirth strahlen eine kühle Ruhe und Stille aus. In diesem Sommer eine nicht zu unterschätzende Eigenschaft. Die große Qualität der Arbeiten des Tiroler Fotografen Gregor Sailer liegt aber natürlich nicht in der evozierten Abkühlung, sondern in der präzisen Beobachtung und fotografischen Klarheit, mit der sie außergewöhnliche kontemporäre Orte, Räume und Architekturen zeigen. Und durch diese von aktuellen gesellschaftlichen Phänomenen und Entwicklungen erzählen.

Im Jahr 1787 reiste Zarin Katharina II auf die Halbinsel Krim. Um die Region in einem möglichst guten Licht zu präsentieren, montierte Feldmarschall Grigori Potjemkin prachtvolle Fassadenattrappen, um die heruntergekommene Realität der Dörfer zu verschleiern. So erzählt es die Legende. Ihr Wahrheitsgehalt ist unter Historikern allerdings umstritten. Auf einer Russlandreise im Jahr 2013 wurde Gregor Sailer im Dorf Suzdal nördlich von Moskau auf Plane mit aufgedruckten, schmucken Fassaden vor halb verfallenen Gebäuden aufmerksam. Sie waren anlässlich eines Besuchs Wladimir Putins errichtet worden, abermals um den in Wirklichkeit desolaten Zustand zu verbergen. Diesmal ist der Wahrheitsgehalt gesichert.
In seiner Werkreihe The Potemkin Village erweitert der Künstler den Begriff des Potemkin’schen Dorfes auf verschiedene zeitgenössische Orte, die vorgeben, etwas zu sein, das sie nicht sind. Die in den Jahren 2015 bis 2017 entstandenen Fotografien von kulissenhaften Nachbauten europäischer Stadtviertel in China, Testgeländen für neue Fahrzeuge oder militärischen Übungsgeländen führen fort, was Sailer mit der Arbeit Closed Cities (2009-12) begonnen hat. In den menschenleeren Aufnahmen von Gated Communities – exklusiven, hinter Zäunen, Mauern und bewachten Toren versteckten Wohnvierteln – spürte er der Einsamkeit pseudourbaner Realitäten nach. In The Potemkin Village konzentriert er sich hingegen auf den Aspekt der Künstlichkeit.

Die Fassade, zugleich Grenze und Vermittlerin zwischen Außen und Innen, spielt dabei eine zentrale Rolle. Der Legende von Potjemkin am nächsten kommen die beiden in Russland fotografierten Orte der Serie. Ein bisschen Ironie muss sein. Sowohl in Suzdal als auch in der Industriestadt Ufa, wo marode Industriebauten für einen internationalen Gipfel hinter Kulissen verschwinden mussten, reproduziert Sailer die Täuschung in großen, neutralen Frontalen, konzentriert sich dann aber auf die Spalten und Risse in der Illusion, um sie als solche zu entlarven. Die lebendigen Straßenfronten im schwedischen Auto-Testgelände zeigt er ebenfalls zunächst frontal, um auf dem nächsten Bild die Illusion durch die schmale Seitenansicht zu enttarnen.
Durch Überhöhung und Brechung der illusionistischen Wirkung in Details, Perspektive oder Materialität thematisiert Sailer Fragen der Repräsentation ebenso wie der Rekonstruktion. Mit den verschiedenen Orten geht er, deren jeweiliger Charakteristik folgend, unterschiedlich um, in Bezug auf Komposition und Abfolge von Bildern beim virtuellen Durchwandern der Räume.

Besonders deutlich wird das bei den Fotografien von militärischen Übungsgeländen in den USA, Frankreich und Deutschland, wo Sailer einen teilweise enormen organisatorischen Aufwand betreiben musste, um zunächst Genehmigungen und dann für jedes einzelne Bild eine Freigabe der Zensurbehörden zu erhalten. Die Fotografien von zwei „arabischen“ Dörfern, vom US Militär in der Mojave Wüste errichtet, um Häuserkampf in authentischer Umgebung zu trainieren, wirken vertraut und fremd zugleich. Die exakten Einstellungen demonstrieren die sorgfältige Vorgangsweise Sailers, obwohl sie in beschränkter Zeit und unter ständiger Begleitung von Militärpersonal entstehen mussten. Sie wechseln zwischen dem Überblick aus der Distanz und Details, zwischen Raum und Objekt, zwischen ausdruckslosen Fassaden und Resten der militärischen Manöver. Auf anderen Aufnahmen wird die Abstraktion deutlich, die generische architektonische Typen erkennen lässt: Wohnbauten, Sakralbauten, ein Rathaus, einen Supermarkt und sogar eine U-Bahnstation.

Form und Funktion laufen jedoch auseinander, irgendwie stimmen sie nicht mit unserer alltäglichen Raumerfahrung überein. Es sind die Orte selbst, die entfremdet sind. Um nahe an der authentischen illusionistischen Wirkung der Motive zu bleiben, orientiert sich Sailer am Dokumentarischen, geht formal streng vor und von einer Systematik aus, die er jedoch bei Bedarf variiert. Er abstrahiert Fassaden, Gebäude und Strukturen, reduziert sie auf das Wesentliche und löst sie aus ihrem Kontext. Am liebsten fotografiert er im Winter, wenn das Licht diffus ist, wenig Schatten wirft und die Szenerien in neutrale Farben hüllt, ähnlich den Typologien Bernd und Hilla Bechers. In der „versachlichten Wiedergabe steriler Bauten“ (1) bewegt er sich von der Dokumentation zur Interpretation des Gesehenen.

Sailer fotografiert mit einer analogen Sinar Fachkamera. Von den meisten Einstellungen macht er nur eine Auslösung. Diese Arbeitsweise erhöht die Präzession bei der Wahl von Perspektive und Ausschnitt – und macht so manche Sicherheitskontrolle spannend, wenn die Behörden unbedingt die Schachtel mit dem belichteten Film öffnen wollen und Sailer ihnen über alle Sprach- und Autoritätsbarrieren hinweg das Verhalten von noch nicht entwickeltem analogen Fotomaterial unter Lichteinfluss erklären muss.

Auch auf der inhaltlichen Ebene beschäftigt sich Sailers Arbeit mit der Natur der Fotografie. Die abgebildeten Orte replizieren Realität, wie es auch die Fotografie als Abbildungstechnik tut. Punktgenau markieren die Fotografien das Zusammentreffen von Authentizität und Illusion. Sie präsentieren etwas das vorgibt etwas zu sein was es nicht ist und weisen gleichzeitig darauf hin was es ist. So verdoppelt Sailer die Reproduktion von Wirklichkeit.

Wie nahe die Illusion an der Realität liegen kann, zeigen die Bilder chinesischer Kopien europäischer Städte. Sailer zeigt nicht die inzwischen bekannten Nachahmungen von Hallstatt oder Paris für touristische Zwecke, sondern das Wohnviertel Thames Town am Yangtze bei Shanghai, einen gut gemachten Nachbau britischer Straßenzüge. Nur die chinesischen Schriftzeichen verraten die Täuschung in der architektonischen Verortung. Der Stadtraum wird hier zu einer Bühne, einem „Theater vermeintlicher Realität“ (2) in das sich die BewohnerInnen einfügen und selbst Teil des Potemkin’schen Dorfs werden. Grund für den Fotografen, mit seiner sonst üblichen Praxis die Orte menschenleer abzubilden zu brechen.

Den besonderen Reiz der Fotografien Gregor Sailers macht die feine Balance zwischen Illusion und Realität aus. Ihr Gegensatz wird greifbar gemacht, gleichzeitig werden sie untrennbar miteinander verbunden. Die Bilder regen an, ausgehend von diesen speziellen, das Städtische vorgebenden Orten über die zeitgenössische Stadt nachzudenken und ihre Räume neu zu interpretieren. Die Komplexität städtischer Räume, die nötig ist, um Urbanität entstehen zu lassen, wird durch ihre Verflachung in den Fotografien ins Bewusstsein gerufen. Die gebrochenen Erwartungen werfen Fragen auf zu Zweck und Intention, Hintergrund und Auftraggeber der heutigen Potemkin’schen Dörfer. Zu strategisch geplanten „gewachsenen“ Dorfstrukturen und den dahinterliegenden politischen und ökonomischen Verknüpfungen. Die surreale Anmutung der Fotografien steht für Sailer symbolisch für die Absurdität und den Surrealismus der gesellschaftlichen Veränderungen, die zur Entstehung dieser Orte führen.

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(1) Walter Moser: The Potemkin Village, in: Gregor Sailer: The Potemkin Village. Heidelberg, Berlin: Verlag Kehrer, 2017, S. 163
(2) Linde B. Lehtinen: Irreale Fotografie: Gregor Sailers Das Potemkinsche Dorf, in: Gregor Sailer: The Potemkin Village. Heidelberg, Berlin: Verlag Kehrer, 2017, S. 167

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